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Am Anfang war die Nacht Musik

Am Anfang war die Nacht Musik

Titel: Am Anfang war die Nacht Musik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alissa Walser
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Ihnen überallhin, als sei er an Ihnen festgeklebt? Und warum sollte er sich weigern, in ein geschlossenes Zimmer zu kommen? Sie meinen wohl, er hat gefühlt, oder geahnt, dass es in Wien sein würde, wo an einem bestimmten Tage dieser Mensch ihn mit sich in ein Haus nehmen würde, wo sein Herr aus dem Fenster des Hofes schauen würde? Er soll wohl geahnt haben, dass er nur so seinen alten Herrn wiederfinden konnte. Und wollte darum stets draußen sein? Aus Furcht, im wichtigsten Augenblick eingeschlossen zu sein?
    Sie stelle genau die richtigen Fragen, sagt Mesmer. Und genau die, die er sich selbst stelle.
    Sie, sagt das Fräulein, halte das für eher unwahrscheinlich. Woher hätte denn der Hund das alles wissen sollen?
    Das sei die zentrale Frage, sagt Mesmer. Er wartet eine Weile und sagt, ob sie ihm jetzt von sich erzählen wolle.
    Sie schweigt.
    Dass sie nicht nur dasitzen und nichts denken, weiß er von anderen Patienten. Oft sehen sie aus, als könnten sie sich nicht mal mehr rühren, aber innen drin, da galoppiert es ihnen davon.

Fünftes Kapitel
24. Januar 1777, 12 Uhr 15
    Sie hat die Augen gesenkt. Wovon soll sie ihm erzählen. Von gestern. Von heute. Von jetzt. Von sich. Was meint er denn.
    Alles fällt ihr ein. Alles auf einmal. Also nichts. Nichts als Bruchstücke. Das Instrument, auf dem er gerade spielte, klingt ihr noch im Ohr. Diese Töne. Die verflogen, noch ehe sie richtig zu sich fanden. Ineinander verschwammen. Als sei jeder Ton zu groß für nur eine Tonhöhe. Als flössen da noch etliche Nebenklänge aus ihm heraus und in alle Tonrichtungen davon. In ein vielstimmiges Verklingen. Fast schon traurig. Traurig erregt. Einmal hatte ihr ihre hohe Namensvetterin von den verfallenen Gärten der Villa d’Este erzählt. Von der Musik des auseinanderfließenden Wassers. Von den Enden des Flüsschens Teverone. Und wie sie einst vom Architekten Galvani, der sicher auch ein hervorragender Komponist gewesen wäre, vertont worden seien. Das hat ihr gefallen. Und dass die Kaiserin das alles wieder zum Leben erwecken lassen will. Dieses vielstimmige Verklingen.
    Sie könnte sagen, dass sie nicht weiß, welcher Ton eigentlich der letzte war. Aber dann wird der Doktor vielleicht an ihrem Gehör zweifeln. Und ihr Gehör ist unerhört richtig. Sie ist stolz auf ihr Gehör. Lieber erzählt sie von der letzten Nacht. Die war weniger richtig. Sie hat kaum geschlafen. Das fremde Bett. Fremdes Knarren fremder Holzdielen. Fremde Schritte vor ihrem Zimmer. Selbst ihre eigenen, bekannten Schritteklingen fremd im unbekannten Zimmer. Sieben von der einen zu der andern Wand und fünf vom Fenster zum Bett. Ein geräumiges Zimmer. Und die Wände glatt und kalt. Und früh am Morgen ein Hund, der den frühen Morgen verbellt, als sei auch der ein Fremder. Wenigstens einer ist wach wie sie, auch wenn es ein Tier ist.
    Der, wie das Mädchen sagte, pechschwarze Hund. Aber sie greift schon wieder vor, lässt das Wichtigste aus.
    Die fremde Hand, die die Schlaflose wachrüttelte. Sie erkennt Menschen an ihren Händen. Kühle, trockene, feuchte, warme, weiche, gepolsterte, verspannte, gichtige, raue, knochige, drahtige, fette, grobe, entspannte Hände, die sie berühren. Soll sie sagen, dass sie nicht alle Hände mag? Eigentlich nur die sanften. Die fühlen sich an wie helle, mit sich selbst mitschwingende Stimmen. Wie die, die sagte, sie sei Kaline, das Mädchen. Ob sie aufstehen und frühstücken wolle. Und die, kaum eine Antwort abwartend, weitere Fragen stellte: Gebranntes Mus? Geröstetes Brot? Mit eingeweckten Pflaumen und Aprikosen aus dem eigenen Garten. Sie klingt so selbstverständlich, diese Kaline. Berührt so selbstverständlich ihre Schulter. Und liest ihr noch wie selbstverständlich die Wünsche vom verschlafenen Mund ab, als sie hinzufügt, Und wie wär’s mit einer großen heißen Schokolade?
    Kaline bringt ihr die Kleider ans Bett. Hilft beim Anziehen. Lobt ihr Kleid und sagt, nötig sei das jetzt nicht, eher ein bisschen überkandidelt, für den Anlass. Und sie lacht dabei. Kurze, stürmische Lachstöße, dass es Marias müde Augen anweht. Und sie, Maria, erschrickt. Macht sie sich lustig, diese Kaline? Über sie, Maria. Über ihre Augen. Sie muss sofort nachtasten.
    Sie legt die Finger über die hervorstehenden Augäpfel. Da verstummt Kaline plötzlich, als Maria ihre Zeigefinger, leicht gekrümmt, vom Jochzum Stirnbein legt. Ihre Art, zu prüfen, ob die Augen gearbeitet haben. So sagt der Vater. Die Augen haben

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