Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Anfang war die Nacht Musik

Am Anfang war die Nacht Musik

Titel: Am Anfang war die Nacht Musik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alissa Walser
Vom Netzwerk:
richtigen Platz zu finden. Dort, wo der Doktor sie nicht übersehen konnte. Was er wohl sagen würde? Sie hatte sich entschieden für einen Platz, ihren Platz, den mit der besten Akustik. Von den anderen Patienten kannte sie nur ein paar Namen. Aber was hieß das schon. Keinen von ihnen konnte sie nach ihren Augen fragen.
    Ach bitte, sehen meine Augen heute anders aus?
    Anders? Anders als wann?
    Als gestern Abend.
    Sie erinnert sich an die Frauenstimme, die ihr, wie aus dem Nichts, einen Guten Morgen wünschte, dabei klang, als sei es der miserabelste aller Morgen. Eine Stimme, die nicht meinen konnte, was sie sagte. Kam ihr bekannt vor. Der Schreihals von neulich.
    Sie sei Ossine. Ihre Zimmernachbarin.
    Froh darüber, dass sie mit ihr allein war, weil sie, wenn keiner sonst da war, fragen konnte, fragte sie, ob sie ihr eine Frage stellen dürfte.
    Aber bitte.
    Was denn da neulich passiert sei? Sie habe neulich miterlebt, wie Ossine in eine Krise geraten sei. Sie habe geschrien –so … als werde sie gepfählt. Bei lebendigem Leib. Sie sei heute neu und fürchte sich vor dem Sitzen im magnetischen Zuber. Offenbar sei mit Schmerzen zu rechnen.
    Oh, und an den Blick der Jungfer erinnert sie sich genau. Solche Blicke spürt sie auf der Haut. Wie Stiche. Oder Steinwürfe. War offenbar die falsche Frage.
    Wie das Fräulein auf so einen Unsinn komme. Schmerzen, klar, jeder hier habe Schmerzen an irgendwelchen Stellen. Deshalb sind wir ja hier. Und Krise hin oder her, jeder gerate früher oder später in eine Krise. Auch dafür seien sie hier. Aber dass sie laut geschrien habe, sei eine gemeine Unterstellung. Sie sei keine Irre. Sei eine Dame. Also beherrscht. Auch wenn ihr oft nach Schreien zumute sei. Zum Beispiel gestern Nacht. Sie habe kein Auge zugetan. Ein Knarren habe sie wach gehalten. Schwere Schritte. Der Beelzebub höchstpersönlich. Allein, sagte sie, die Schritte kamen von nebenan. Aus Marias Zimmer. Warum denn Maria mitten in der Nacht so laut herumtrample. Sie solle doch bitte den Doktor um einen Schlaftrunk bitten. Der Doktor wisse für jeden etwas, bestimmt auch für sie. Und ob sie schon Theriac versucht habe?
    Längst, sagte Maria. Sie hatte sich gewundert. Sie war in der Nacht nicht einmal auf dem Nachttopf gewesen. Vielleicht hatte sie zu tief geschlafen. Vielleicht hatte sie durch alle Mauern und Wände geschnarcht. Wie manchmal ihr Vater. Sich selber hört man ja nicht. Aber die anderen. Vielleicht war es das, was Ossine gehört hatte. Ihre Nase ist nachts so verstopft, dass sie durch den Mund atmen muss, um nicht zu ersticken.
    Ossines Vermutung ging in eine andere Richtung. Sie fürchtete, der Beelzebub gehe bei Maria ein und aus, ohne dass diees ahne. Das allerdings sei schlimm. Da müsse man vielleicht noch andere Spezialisten hinzuziehen als Dr. Mesmer …
    Aber da hat Maria sie beruhigen können. Ihr Gewissen sei das Verlässlichste an ihr. Ohnehin ohne große Sünden. Und von den kleinen Sünden, den vielen Wünschen, Eitelkeiten und Sehnsüchten regelmäßig reingebeichtet beim Beichtvater in der Stephanskirche.
    Klein könne sie Marias Sündenzählung nicht finden, hatte die Jungfer ihr an den Kopf geworfen, gerade in dem Moment, als die Musiker hereinkamen und in ihrem Gefolge die anderen Hauspatienten. Ossine schien beflügelt. Es sei zwar eher dunkel im Saal, sagte sie so laut, dass alle es hörten, aber doch nicht so dunkel, um nicht zu sehen, dass mit Marias Augen etwas nicht stimme.
    Sie erinnert sich, dass sie in diesem Moment ihre Augen nicht mehr spüren konnte und schrecklich erschrak.
    Ossine behauptete, es sei doch fast nur das Weiße zu sehen. Drauf die Pupillen wie närrische Hummeln in alle Himmelsrichtungen schössen.
    Und eine fremde Männerstimme mischte sich ein. O Gott, ja. Ob man den Doktor rufen solle.
    Marias Hände hatten die unerklärlichen, wieder leicht geschwollenen Augen ausfindig gemacht. Die unerklärlichen Tränen, ihr nasses Gesicht, ohne dass sie weinte.
    Bei dem Fräulein sei was im Busch. Ossine wandte sich an alle im Raum, das habe sie sofort gespürt. Die wandle nicht umsonst im Schlaf unkontrolliert im Kreis.
    Sie erinnert sich, dass eine fremde Hand ihren Arm berührte, eine haarige, derbe Hand, und dass sie in einem Reflexdanach schlug. Dreimal kurz danach schlug, während das Fremde versuchte, ihre Hand einzufangen.
    Verzeihung, sagte eine Männerstimme. Er habe vergessen, sich vorzustellen. Graf Pellegrini. Er habe schon viel gehört von ihr

Weitere Kostenlose Bücher