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Am Anfang war die Nacht Musik

Am Anfang war die Nacht Musik

Titel: Am Anfang war die Nacht Musik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alissa Walser
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Kreis. Als sammle sich jeder Herzschlag in ihr und vervielfältige sich. Alle schwangen und wiegten sich. So eine kleine feine Bewegung, die nicht weniger von außen als von innen herkam. Und in den Augen nie Gekanntes: Als wische ein zarter Pinsel darin herum. Oder waren es Fischflossen?
    Die, von denen ihr Geographielehrer erzählt hatte. Als sie, Drähte in der Hand, auf der Landkarte dem Lauf der Donau folgte. Jede Drahtkurve eine Flussbiegung, jede Flussbiegung ein Glücksgefühl. Diese Donau mit ihren munter fächelnden Lachsforellen und Saiblingen am Grund. Die lassen das Wasser an ihren kalten Leibern entlangströmen. Und gehen dann doch dem Fischer ins Netz. Ein Stückchen davon hatte der Lehrer mitgebracht – schneidend feine Schnüre. Ihr graute. Und dann auch noch das Opfer: eine frische, feuchtkalte, glitschige Lachsforelle. Fühlte sich an, als wolle sie sich keinesfalls anfassen lassen: Meine Hände sind ja auch kein Wasser. Sie erinnerte sich, wie sie das gesagt hatte. Und später, Freitag, landete die Forelle auf dem Mittagstisch ihrer glaubensstrengen Eltern, und sie hatten sie gemeinsam verspeist.
    Sie erinnert sich, dass alle sich rhythmisch wiegten in dieser einen, zarten, harmonischen Unterwasserbewegung zur Musik und sie, Maria, mit ihnen. Und ein Gefühl, als gäbe esweder Anfang noch Ende, nur dieses Mitgetragenwerden von der Musik. Von ihrer Musik. Von Haydn. Und von diesem Geiger. Riedinger. Seinen Namen hatte sie behalten. Sein Spiel. Riedingers Geige klang menschlich. Als sei der Klangkörper nicht hölzern, sondern Haut und Fleisch und Knochen. Und weiblich. Ein singendes Mädchen. Eine singende Frau, denkt sie. Ein singender Fisch. Traurig und beschwingt zugleich. Sie erinnert sich, dass sie mitsingen wollte. Lachen wollte. Über sich. Und dachte, dass, wenn sie laut lachte über sich, das doch hieße, dass sie froh sei. Sie wagte es nur wieder nicht. Störte sie aber nicht. Alles Gewohnte macht glücklich.

    Sie erinnert sich, wie neben ihr ein Fisch, der biblische Walfisch, Graf Pellegrini, laut zu prusten begann. Und dass sie ihr Lachen kaum zurückhalten konnte. Dachte, so verlässlich sei sie also doch nicht, dass sie lachte über seine Brust, dieses Instrument mit hundert Kammern. In denen es knurrte, grollte, röchelte. Resonanzräume, die sie in ihrem Körper nicht lokalisieren konnte. Während der kleine Kornmann neben ihr mädchenhaft zu summen begann, sich höher und höher hinaufsummte, bis ins Insektenhafte. Bis dann von schräg gegenüber ein schweres Stöhnen alles übertraf. Zum Schreien anschwoll, noch ehe der heitere Haydn verklang. Ossine. Schneller als jedes Presto. Presste sie die Schreie aus ihrem Leib. Und hielt sie gleichzeitig fest. Kämpfte. Jeder Schrei war ein Sieg. Der die andern dämpfte. Alle kämpften mit sich. Ihren Körpern und Korsetten.
    Gewinnerin war Ossine. Die Erste, die Lauteste, die Tiefste von allen.
    O Gott. Maria hatte rollige Katzen im Ohr, die nachts auf den Dächern und Mauervorsprüngen schrien. Sie hatte das Wort im Ohr, das einzige, das es in ihrer Familie dafür gibt: Wüst. Dagegen anzuspielen, eine Qual. Kein Musiker hat das verdient. Dann. Mit Schrecken hatte sie ihre Augen gespürt, die außer Kontrolle gerieten. Jucken und Brennen. Zuckungen verbreiteten sich wellenartig über ihr Gesicht. Sie, ausgeliefert. Ihr Kopf wurde hochgerissen. Sie ließ alles los. Der Eisenstab donnerte zu Boden. Eine haarige Hand griff nach ihr und griff in die Luft. Sie rieb sich die Augen. Wollte schreien. Konnte nicht. Dann doch. Zuckungen rissen sie in alle Richtungen. Und sie erinnert sich, dass die Musik in diesem Moment jäh verstummte. Und drei Männer in Ossines Richtung rannten. Allen voran der Doktor. Ossines Schreie durchfuhren Maria, dass sie empfand, ihr Körper sei ein gigantisches Ohr, das gleich platzen würde, wenn sie nicht nachgäbe. Und dann, wie gut es tat, nachzugeben. Und wie alle zu ihr rannten.
    Sie erinnert sich, wie der Doktor an Ossine vorbei und zu ihr gerannt kam. Sie erinnert sich an die Musikerhände, die sie packten. Sie erinnert sich, dass sie dachte, sie sei jetzt ihr Instrument, das sie schnell und sanft hinausbugsierten. Fort aus den Ohren der Gruppe. Begleitet von einem leise vibrierenden Neid auf die Zuwendung. Und auf den Doktor. Während die markerschütternde Schreie Ossines verhallten. Dann nichts mehr.
    Man hatte sie wohl in jenes abseits gelegene Zimmer gebracht. (Sie hatte den Weg dorthin längst erkundet.

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