Am Anfang war die Nacht Musik
die Tür von außen zu. Das Fräulein hat sich die Hände über das Gesicht gelegt.
Sie habe Schmerzen, sagt sie. Grell wie die Blitze.
Seine Frage, wo, ignoriert sie, ebenso den Hinweis, dass sie jetzt Ruhe brauche.
Sie wolle keine Schmerzen mehr. Sie weint. Er habe ihr versprochen … Sie habe noch nicht Klavier geübt … Wo die Frisur sei.
Sie steht auf. Weiß nicht, wohin. Dreht sich, stößt mit der Hüfte gegen den Tisch, legt ihren Oberkörper über die Tischplatte, tastet nach der Perücke. Findet sie. Versucht, die Haarteile auf ihrem Kopf zusammenzufügen. Durchwühlt die Locken, dass es staubt, muss husten und niesen und schluchzen und alles zugleich. Bis er sie an der Schulter berührt. Ihr die Haare aus der Hand nimmt und verspricht, er werde sie jetzt auf ihr Zimmer bringen.
Nicht aufs Zimmer, schreit sie. Ans Klavier.
Er bringt sie. Hört im Hinausgehen, wie sie durch die Tonleitern rast. Wieder mit dieser dem englischen Instrument angemessenen Kraft. Und sie moduliert sie sogar.
Siebtes Kapitel
28. Januar 1777
Beim Aufwachen hat sie eine Hand in der Hand. Eine, die sie nicht kennt. Eine feine, kühle, trockene. Weiblicher Mann oder männliche Frau. Nicht zu entscheiden. Leichte Finger, die sie drückt und die sich sofort zurückziehen. Schön. Jede angenehme Hand ist eine mögliche Freundin. Für ihre Sammlung. Zu dumm, dass sie ihr Freundschaftsbuch nicht zur Hand hat. Sie versucht sich aufzusetzen. Ihr Kopf ist schwer. Hat man ihr Steine aufgebunden? Nicht nur der Kopf. Ihre Arme und Beine. Die Füße. Nichts als Gewichte.
Nicht erschrecken. Die Stimme, die zur Hand gehört, kennt sie. Natürlich. Hätte sie wissen können. Musikerhände. Geigerhände. Riedinger, der sagt, der Doktor habe ihr Magnete aufgelegt. Und wie sie sich fühle.
Das versuche sie gerade herauszufinden. Indem sie sich erinnere, was geschehen und wie sie hier gelandet sei. Auf dieser Matratze.
Es war der achte Tag gewesen. Das weiß sie noch. Sie war früh wach geworden, hatte sich im Halbschlaf das Gesicht und wie gewohnt mit der Hand den Schlaf aus den Augen gerieben. Das Erschrecken darüber, nicht das Übliche vorzufinden. Keine Schildkröten, keine harten Eier. Keine Schwellungen. Oder täuschte sie sich? Weiche Augen. Weicher als das Wachs der Kerzen, die sie sofort anzündete, damit Kaline gleich sehen könnte, was nicht mehr zu spüren war. Sie hatte den Stuhlzur Tür gedreht, sich hingesetzt. Auf Kalines unverwechselbar leichte Schritte gelauscht, die klingen, als schleife Kaline zwei lange Flügel hinter sich her.
Kaline war ins Zimmer geplatzt mit einer Neuigkeit, die sie weiter beunruhigte: Heute dürfe das Fräulein am magnetischen Zuber teilnehmen, verkündete sie und trug die Waschschüssel an Maria vorbei zum Frisiertisch. Mit den anderen Patienten, sagte sie. Graf Pellegrini, dem süßen kleinen Kornmann, der Herzogin von Kingston und natürlich Jungfer Ossine. Und wer heute von außerhalb noch dazukäme, werde man sehen …
Maria hatte den Kopf nach ihr gedreht. Die Hände wieder an den Augen. Die waren mit gestreckten Fingern kaum zu spüren. Täuschten sich ihre Finger? Waren sie blind geworden für ihre blinden Augen? Oder war Kaline blind? Die ihre Augen nicht bemerkte und stattdessen den Schwamm auswrang. Der Doktor war es jedenfalls nicht. Er würde sofort sehen, dass ihre Augen über Nacht in die Höhlen zurückgetreten waren. Sie hatte Kaline gebeten, sie sofort zum Behandlungssaal zu bringen. Natürlich hätte sie allein hingefunden. Aber das brauchte Kaline nicht zu wissen.
Sie erinnert sich, dass Kaline damit nicht einverstanden gewesen war. Die Musiker kämen doch erst in einer Stunde in den Saal. Und der Doktor erst in anderthalb. Und ob nicht ein paar Spritzer Wasser auf der Haut sie ein bisschen erfrischen könnten. Und erinnert sich, dass sie sofort ihr wirkungsvollstes Mittel eingesetzt hatte. Sie war zur Tür gelaufen und hatte geschwiegen. Woraufhin Kaline sie bei der Hand genommen hatte.
Im Behandlungssaal war sie um den magnetischen Zuber herumgewandert. Mehrmals. Wunderte sich über den kleinen Radius, und darüber, dass er beim zweiten und dritten Mal etwas größer schien. Sie hatte alle möglichen Wege und Plätze probiert. Zur Tür und zurück. Auf das Musiker-Podest und wieder hinab. Hatte die mit Samt beschlagenen Wände ertastet, die Spiegel und die magnetischen Vorrichtungen. Die Eisenstäbe in ihren Halterungen. War kreuz und quer gegangen, alles zu testen und den
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