Am Anfang war die Nacht Musik
sehen. Unbedingt sogar.
Nach allem, was sie von Freundinnen und Verwandten wisse, müsse Sehen die schönste Tätigkeit überhaupt sein. Schöner als Sprechen und Singen. Obwohl Singen schon mit zum Schönsten zähle. Und sie wolle Klavier spielen. Für die professionelle Laufbahn brauche man Augen. Wer nicht sehen kann, wird auch nicht gesehen. Wer nicht gesehen wird, wird auch nicht gehört. Wer nicht gehört wird, lebt nicht. Sage ihr Vater. Und sie sei ganz seiner Meinung. Sie wolle reisen. Nach Italien und England. Berühmt werden. In ganz Europa. Vielleicht auch in Amerika. Sie wolle vor fremden Menschen große Konzerte geben. In fremden Städten. Und. Sie wolle wissen, wie sie aussehe. Wie Menschen aussehen. Und Tiere. Sie wolle mit prächtigen Frisuren auftreten, in eleganten Kleidern und den Leuten ins Gesicht sehen.
Bedeutet ihr das mehr als gesehen zu werden?, fragt er.
Auch wenn ihm das vielleicht wie zu viel vorkomme, was sie alles wolle … alles sage. Oder. Allerdings, fügt sie hinzu, wenn jede Therapie so schmerzhaft sei, dann bleibe sie lieber blind.
Sie weint. Sagt, sie sei bestürzt.
Man könne die Entfernung und den Lauf der Sonne messen, sowie den des Mondes und der Gestirne, und die Höhe der Berge. Man könne das Jahr einteilen und die Stunden. Die Erdkugel, das Meer, die Gebirge und Schiffe. Und könne sagen, dieser Turm – jener Palast bräuchten so und so tief reichendeund dicke Grundmauern, wenn sie Jahrhunderte überdauern sollen. Aber ihr könne man nicht helfen? Das sei schwer zu begreifen.
Ich spüre, sagt sie, wie ich mich weiter und weiter entferne, von den Menschen und von der Erde. Ohne sie je gesehen zu haben … Weiter als der Mond, weiter als die Sterne. Vielleicht bin ich ja schon nicht mehr erreichbar. Jeder Schmerz treibt mich ein Stück weiter fort von der Erde. Und den Menschen …
Er verstehe, sagt Mesmer. Sie solle froh sein, dass sie die ärztlichen Behandlungen überlebt habe. Heutzutage müsse ein Kranker vor allem den Arztbesuch überstehen.
Wer Arzneien und Behandlungen überlebe, habe gute Chancen, wieder gesund zu werden.
Das verstehe sie jetzt nicht, sagt sie, dass er so rede. Er sei doch selber Arzt.
Ja, er sei Arzt. Und er forsche als Arzt. Und deshalb wisse er, dass es Ärzte gebe und Ärzte. Und Ärzte und Ärzte seien nicht dasselbe.
Das verstehe sie auf keinen Fall.
Macht nichts, sagt er. Bei ihm habe sie nichts zu befürchten. Er werde ihr keine schädlichen Arzneien verschreiben. Zu Anfang einen Sud aus Chamomilla und Pulsatilla nigricans , zweimal täglich, und am Abend eine Abkochung aus Radix Valerianae . Blutegel … unbedingt. Und alle zwei Tage eine Sitzung im magnetischen Zuber. Dazu die magnetischen Einzelbehandlungen. Wichtig sei, dass sie ihm alles erzähle. Er stehe auf ihrer Seite.
Sie scheint zu überlegen, was er meint.
Alles, sagt er, was sie spüre oder denke, solle sie ihm sagen. Und solle sich nicht schämen. Für nichts. Auch die unsinnigsten Gedanken wolle er wissen. Sie hätten einen Sinn, vielleicht nur für sie und in ihrem Lebensgefüge. Doch gehöre er ja dazu nun auch. Also auch für ihn. Sie solle ihm also alles anvertrauen … Auch wenn er jetzt vielleicht klinge wie ihr Beichtvater.
Den ganzen Morgen, sagt das Fräulein plötzlich, habe sie gefroren. Und jetzt sei ihr auf einmal warm.
Das liege in der Natur der Sache, sagt er und lässt die Hände auf ihre Schultern sinken.
Als es klopft, kurz und heftig, und die Tür auffliegt. Anna, einen Krug in den Händen und ein Zittern in der Stimme.
Sie wolle nicht stören. Nur Wasser bringen.
In einem Reflex hat er die Hände zurückgezogen. Als sei er ertappt worden bei etwas Ungehörigem. Anna steht im Zimmer. Feuer in den Augen. Dann die Abkühlung. Ihr Erschrecken beim Anblick des kahlen, vernarbten Fräuleins. Er schüttelt den Kopf. Gestikuliert. Gehen soll sie. Auf der Stelle. Sie antwortet mit einem enttäuschten Warum.
Er legt den Finger auf die Lippen. Sie soll ruhig sein. Sie knallt den Krug auf den Tisch, dass es schwappt.
So ein schöner, klarer Fall, sagt sie laut. Ein vollkommener Star. Sie wolle doch nur zuschauen. Sie wolle doch etwas lernen, sagt sie. Sie sei doch seine Schülerin. Ob das Fräulein etwas dagegen hätte, wenn sie, Anna Maria, Mesmers Gattin und Schülerin, dem Meister bei der Arbeit zusehe.
Das Fräulein, in sich zusammengesunken, antwortet nicht.
Es reicht. Er hat noch nicht begonnen, es auszusprechen, da schmettert seine Frau
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