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Am Anfang war die Nacht Musik

Am Anfang war die Nacht Musik

Titel: Am Anfang war die Nacht Musik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alissa Walser
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Hatte sich hingetastet. War dort gewesen.) Vielleicht hatte Riedinger sie gehalten.
    Sie hat es vergessen, wie man den Traum nach dem Aufwachen vergisst.
    Arme und Beine sind schwer, wollen sich strecken. Alles ist schwer.
    Riedinger sagt, der Doktor habe ihr Magnete an den Leib gebunden, während sie schlief.
    Was geht hier vor? Sie wundert sich über ihre Erschöpfung, wo sie doch geschlafen habe.
    Das sei normal so. Und sie müsse jetzt nicht sprechen. Riedinger klingt vertraut.
    Ach, Riedinger. Sie will doch sprechen. Von Kaline weiß sie, dass er erst spät mit dem Geigen begonnen hat. Nun hält er sich mit Mesmers magnetischem Zuber über Wasser.
    Sie stehe noch völlig im Bann seiner Geige, sagt sie. Nur gut, dass er hier sei.
    Eine Anstellung in der Hofkapelle wäre ihm lieber, sagt er. Oder eine Konzertreise. Er breitet eine Decke über ihr aus.
    Eine Konzertreise? Wolle sie auch machen, sagt sie.
    Was soll’s. Jetzt ist es raus. Soll er sie doch für verrückt halten. Sie, ein Mädchen! Blind! Und will quer durch Europa!
    Er habe viel von ihr gehört, sagt er, sie aber noch nie spielen hören.
    Ob er sie auf der Geige begleiten wolle?
    Natürlich will er.
    Sie schlägt Koz̧eluch vor, ihren Lehrer. Eine Sinfonie. Schöner Geigenpart. Nicht ganz leicht.
    Ob sie Noten habe?
    Sie brauche keine Noten. Sie spiele nach Gehör.
    Wie studiere sie dann neue Stücke ein?
    Sie habe zwei Pianoforte zu Hause. Nebeneinander im Salon. Koz̧eluch spiele auf dem einen. Sie auf dem anderen. Er spiele erst die gesamte Komposition. Sie höre zu. Dann spiele er Takt für Takt. Und sie spiele nach.
    Doch für ihn, Riedinger, werde sie Noten besorgen. Sie werde einen Boten an die Eltern schicken.
    Er freue sich drauf, sagt er. In einem Ton, dem sie alles glaubt.

Achtes Kapitel
31. Januar 1777
    Soll er sie warnen? Beim magnetischen Streichen empfinden manche Patienten Schmerzen. Andere fallen in Krämpfe oder Zustände von Betäubung und Ohnmacht. Bei manchen entstehen geheime Sympathien. Doch nichts von Dauer.
    Maria ist stärker, als sie glaubt. Besser einfach anfangen. Ohne viel Worte. Worte lenken ab. Und Maria reagiert stark auf Worte. Wie auf Schmerz.
    Als er hereinkommt, sitzt sie schon.
    Er setzt sich vor sie hin. Gesicht zu Gesicht. Ihre rechte Körperhälfte vis à vis seiner linken. So versetzt er sich in Harmonie mit ihr. Schließt die Pole kurz.
    Er wird seine Hände auf ihre Schultern legen. An ihren Armen entlang abwärts bis zu den Fingerspitzen streichen. Wird einen Moment lang ihren Daumen halten. Alles wiederholen. Zweimal, dreimal. So wird er von ihrem Kopf bis zu ihren Füßen Ströme errichten. Und herausfinden, ob die Krankheitsursache tatsächlich, wie er vermutet, eine verstopfte Milz ist.
    Wenn er Maria anschaut, sieht er immer die Kaiserin vor sich, wie sie Maria beim Klavierspielen zuschaut. Von Musik durchströmt. Aber jetzt, jetzt schaut die Kaiserin ratlos drein. Und da kommt er ins Bild. Und weist auf Marias Augen hin.
    Die Augen, notiert er, sind zurückgetreten. Eindeutiger Erfolg meiner magnetischen Behandlung. Neben Maria, notiert er weiter, sitzt der Hund. Dass sie heute den Hundekopf aufihrem Schoß duldet, ist eine weitere Veränderung in die richtige Richtung. Ihre Nerven entspannen allmählich.
    Das Unterkleid verbirgt an keiner Stelle ihre Fülligkeit. Sie ist dick. Nicht, dass er füllige Frauen nicht mag. Sie ist ein Bild von Patientin. Das ins Stocken geratene Fluidum verursacht Pölsterchen, Aufschwemmungen, Schwellungen und Dellen an ihrem Körper. Und: Auf ihrem Kopf wachsen dunkle Stoppeln. Erstaunlich, notiert er, die völlige körperliche, nicht geistige! Schlappheit, sobald sich kein Instrument in Sichtweite … nein, er korrigiert, Hörweite/Tastweite befindet. Heute neu, notiert er, der merkwürdig nach vorn gereckte Hals. Dann unterstreicht er: Die zurückgetretenen Augen sind ein Beweis für meine Methode.
    Den kann ihm keiner mehr nehmen. Der lebende Beweis sitzt vor ihm. Hoffentlich erinnert sich die Kaiserin daran, wie Marias Augen einst ausgesehen haben. Augen vergessen schneller als Ohren. Er hätte Maria zeichnen lassen sollen. Warum hat er nicht Messerschmidt überredet, ein paar Skizzen von ihr anzufertigen oder ein Gipsmodell von ihrem mitgenommenen Kopf. Heute, am zehnten Tag, ist es bereits zu spät. Eindeutig ein mehrdeutiges Ergebnis: ein großes Versäumnis und ein großer Erfolg!
    Er sieht die Kaiserin allmählich begreifen, wie sehr sie Mesmer braucht. Was,

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