Am Anfang war die Nacht Musik
ließen sie genau diese Ballette blasen. Die Sibariten verloren jede Kontrolle über ihre Kavallerie, weil die zu tanzen anfing. So verloren die Rösser ihren Herren die Schlacht …
Schöne Geschichte, sagt er und beginnt von vorn.
Ja, sagt sie, aber.
Was?
Ich weiß nicht. Ob sie wahr ist.
Das spielt keine Rolle. Sie handelt von der Musik und ihren Effekten, sagt er. Und was ist wahrer als die Macht dieser Effekte?
Mit wahr meine sie, ob sie sich so und nicht anders zugetragen habe.
Das sei nicht Sinn von Geschichten. Geschichten seien erfunden und erlogen. Jedenfalls die meisten. Jeder könne sich alles ausdenken. Aber manche, sagt er, verbreiten eine Art Urgedanken. Und die werden wahr, allein durch die Begabung derer, die sie auffassen. Dabei gehe es weder um Begriffe noch darum, ob etwas so gewesen sei. Solche Geschichten entstammen einem unbewussten Trieb. Der letztlich nur angeregt werden müsse.
Das sei ihr zu hoch, sagt sie.
Das glaube er nicht. In der Zeitung habe er über sie gelesen, dass nichts zu hoch sei für sie. Dieser Meinung schließe er sich an.
Aber, sagt sie, es gehe doch um die Wahrheit. Und wie es in Wirklichkeit gewesen sei, so sei es wahr. Ihre Blindheit sei, was das betreffe, ein großer Nachteil. Denn Augen seien doch wie geschaffen für die Wahrheit. Zu sehen, wie etwas sei. Das behaupteten zumindest die meisten ihrer Freundinnen. Ein Grund mehr, warum sie sehen wolle.
Da müsse er sie enttäuschen, sagt er. Die Augen seien der Wahrheit kein bisschen näher als die anderen Sinne. Alles Lug und Trug und Einbildung. Alle, auch die Augen, erfinden Geschichten, so gut sie können. Das erlebe er als Arzt täglich. Es komme darauf an, die Geschichten zu hören.
Wie Musik?, sagt sie.
Ja, sagt er, vielleicht wie Musik.
Wie sei sie überhaupt drauf gekommen, sagt sie. Sie wisse es nicht mehr. So ginge es ihr. Und übrigens sei ihr inzwischen nicht nur warm, sondern heiß. Und ihre Nase fange an zu laufen. Ob er ein Taschentuch habe. Nicht eins. Sie brauche fünf.
Fünf, notiert er im Kopf, sie verlangt fünf Taschentücher.
Sie fühle sich blendend, sagt sie, seit heute Morgen. Vor allem die Augen, sagt sie, und deutet darauf. Und jetzt fühle sie sich, mal abgesehen von der Nase, sogar noch besser. Bestimmt werde es einen Punkt geben, an dem sie sich so gut fühle, dass es kein Besser mehr gäbe. Vor diesem Punkt fürchte sie sich.
Ihr Gesicht rötet sich, ihr Hals, ihr Dekolleté.
Die Hitze sei heftig. Sie wolle unterbrechen.
Mesmer streicht unbeeindruckt an ihren Armen entlang abwärts. Hört nicht auf, als sie sagt, sie habe Schmerzen. Die Augen. Und wo ihre Frisur sei. (Das muss er notieren, wenn sie sich schwach fühlt, verlangt sie immer zuerst nach der Frisur.) Sie fasst sich an den Kopf.
Dieses Stoppelfeld sei nicht ihr Haar. Ich habe langes Haar. Nicht solche Borsten. Wie die der Schweine, aus denen man Bürsten herstelle. Ihr werde die Hand taub beim bloßen Drüberfahren.
Und er sagt, bei Priestley stehe, dass Haare nichts anderes seien als kleine Hörner.
Sie schleudert die Hände von sich. Trifft den Hund. Zuckt zusammen, als der aufjault. Murrend zur Seite rückt. Wühlt ihre Hände in sein Fell, rutscht vom Stuhl neben den Hund. Vergräbt ihr Gesicht im Hundefell. Der Hund weicht ihr hechelnd aus, legt sich nieder. Sucht mit der Schnauze ihre Hände. Leckt ihr die Hände, die Augen.
Der Hund, schluchzt sie, sei der Einzige, der wisse, wie es stehe um sie.
Dann dreht sie sich um.
Warum er nichts sage, schreit sie.
Ihre Augen, sagt er. Seien wieder in die Höhlen zurückgetreten.
Warum er das nicht schon früher gesagt habe. Er sei doch ihr Arzt, sagt sie. Und sie, sie sei doch blind! Sie könne doch nicht sehen, wo ihre Augen stehen.
Sie will sofort zum Klavier. Er bringt sie. Steht dann vor der Tür. Lauscht einem unbekannten, ziemlich strengen Stück Musik. Könnte Haydn sein. Als er aufschaut, steht Anna neben ihm.
Sie schaut ihn an.
Nicht jetzt, sagt er.
Wann?, sagt sie.
Später.
Wann später?
Am Abend.
Nein. Sie wird laut. Jetzt.
Gut, sagt er. Aber nicht hier.
Wo dann?
Oben.
Sie folgt ihm so dicht auf den Fersen, als treibe sie ihn die Treppe hinauf. Oben angekommen, gerät das Laute außer sich.
Sie habe ihn geheiratet.
Das sei ihm bekannt.
Du bist mein Mann.
Er schaut sie nicht wirklich an. Er schaut an ihr vorbei, als warte hinter dieser Ungehaltenen bereits eine andere auf ihn. Seine vernünftige Anna.
Ihr Mann, ihr seliger,
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