Am Anfang war die Nacht Musik
hinab. Die Tür hat sie offen gelassen, dass Maria ihr hinterherfragen kann.
Ob Kaline heute Mittag vielleicht zufällig dem Doktor begegnet sei. Als er nach der Visite die Treppe herabkam?
Ja, warum?
Und, hat er da nicht etwas im Arm gehabt?
Moment, sagt Kaline. Kann sein, er hatte was im Arm.
Und, was es war.
Sah schwer aus. War in ein weißes Tuch gewickelt. Er hat es in sein Laboratorium gebracht. Warum sie frage?
Zehntes Kapitel
21. März 1777
Morgen wird ein großer Tag. Der Höhepunkt seiner Therapie: Er wird ihre Augen freilegen. Wird sie bitten, sie geschlossen zu halten. Er wird vor sie hintreten. In seinem violetten Anzug. Die weißen Strümpfe, von weißen Bändern gehalten. Er wird ihr befehlen, ihren Kopf nach seiner Stimme auszurichten und die Augen zu öffnen. Sie wird ihm folgen, wie sie immer folgt. Sie wird ihn erblicken. Ihn. Ihren Menschen.
Die Vorbereitungen laufen. Seit dem Mittag dringt hölzernes Hämmern durchs Haus. Der Kutscher, auf Mesmers Weisung, entfernt die letzten Balken von den Fenstern im Dachstübchen. Das Fräulein verträgt Licht nicht nur, es braucht es. Unbedingt. Und angemessen dosiert.
Bis in den magnetischen Zuber dringt der Lärm. Vergeblich versucht Riedinger mit seinem Bach-Solo, Arzt und Patienten abzuschirmen. Hätte er, Mesmer, selbst mit anpacken sollen? Zumindest hätte er wissen müssen, dass die Fensterbefreiung einen Kutscher allein mehr als einen halben Tag kosten würde. Deshalb wohl hatte er so betreten geschaut und gesagt, er sei doch Kutscher. Und ich Arzt, hatte Mesmer geantwortet. Worauf der andere sich wortlos an die Arbeit gemacht hatte.
Anna hat es gewusst. Ist geflohen. Sitzt beim Schneider. Freigebig bei Gelegenheit. Der wird sich freuen. Darf ihr den letzten Schrei auf den Leib schneidern. Spitzen aus Paris. So teuer wie überflüssig.
Was der Kutscher macht, macht er richtig. Wenn er hämmert, dann richtig. Und wenn das Holz splittert unter seinem Hammer, dann richtig. Klingt, als ginge es um die Ration für den Winter. Dabei zieht er nur ein paar Nägel aus den Balken. Nägel, länger schon im Holz, als Mesmer hier lebt. Wer weiß, wer die Fenster einst zugenagelt hat. Der Proviantamtsobristleutnant wahrscheinlich. Der Fenster-Steuer wegen. In letzter Zeit fällt der ihm viel zu oft ein. Wenn sie aus der Vergangenheit erzählt, ist Anna so freigebig wie beim Einkaufen. Was Mesmer über den Proviantamtsobristleutnant schon alles erfahren hat. Viel mehr als nötig. Dass er ausgezeichnet reiten konnte, geht ja noch. Dass er Englisch, Französisch, Griechisch und Russisch konnte. Und gern jagte. Und zielte und schoss und nie daneben. Obendrein sei er ein kluges Köpfchen gewesen. Mit Sinn für Finanzen. Das hätte genügt. Zusammen mit dem Porträt neben dem Kamin hätte Mesmer sich daraus einen erträglichen Vorgänger zurechtgebastelt. Einen würdigen. Dass der Proviantamtsobristleutnant öfter unangenehm aus dem Mund gerochen hat, hätte Anna ihm nicht sagen müssen. Das hat er dann notgedrungen als medizinische Aussage verbucht. Dass aber der Proviantamtsobristleutnant trotzdem gern geküsst habe, und zwar mit der Zunge tief zwischen Annas Lippen, worunter soll ein Mann das verbuchen? Sie hätte es für sich behalten können. Zumal das auch alle harmloseren Aussagen gefährdete. Aber offenbar mussten ihre Lippen genau das loswerden. Und jetzt hat Mesmer sich mit einem Phantasma herumzuschlagen. Das immer wieder aufblitzt. Wenn er ihre Lippen anschaut. Oder in schwachen Momenten. Und es hält ihn ab davon, intensiver nach Annas früherem Leben
Aber wohin denkt er sich da. Er muss sich konzentrieren. Wie seine Patienten, die verzweifelt versuchen, sich in Harmonie zu wiegen. Was bei diesem Krach unmöglich ist. Schon das geringste Geräusch verursacht Erschütterungen in unseren Nervenbahnen. Jede Ton-, jede Taktänderung lässt sich an den Patienten ablesen. Und erst recht Hammerschlag. Auch wenn Riedinger sich Mühe gibt. Den Bach hat er beendet, jetzt marschiert er, etwas zu hammerartig, zu laut, in eine kleine liebliche Melodie. Warum spielt er nicht einen Marsch. Warum setzt er dem Gehämmer keinen Marsch entgegen? Dieses lyrische Stückchen! Die Patienten sind offensichtlich außer sich. Das Fräulein hält ihren Eisenstab mal ans rechte, mal ans linke Ohr. Der Graf stützt die Stirn drauf ab, als sei alles verloren. Keiner, der den Stab nicht im Kopfbereich umherwandern ließe. Jungfer Ossine malträtiert sich den Schädel. Und
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