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Am Anfang war die Nacht Musik

Am Anfang war die Nacht Musik

Titel: Am Anfang war die Nacht Musik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alissa Walser
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eindringender Wind. Gleichzeitig ziehe irgendetwas in ihrem Kopf mit aller Gewalt nach hinten. Ein Gefühl, als rissen ihre Augen ab. Was das sei, könne sie nicht sagen.
    Klingt nach Fortschritt. Mesmer nahm ihre Hand, und als sei das nicht schon Belohnung genug, führte er sie hin zu dem Ding. Sie erkannte die Kugel sofort. Ein Globus! Er ließ ihre Finger über Amerika spazieren, wo, wie sie wusste, Indianer lebten. Dann fuhr sie selbst mit dem Finger über die Kugel. Irgendwo musste doch Kap Horn hervorstechen. Sie presste ihren Leib an das Ding. Freute sich, weil sie die ganze Welt umarmte. Warum hatte der Doktor ihr eine Welt mitgebracht? Sie dachte, er habe etwas vor mit ihr. Sie spürte es. Freute sich darauf. Wusste nur nicht, was.
    Ob sie weine?, sagte er, und sie wischte sich eine Träne ab, zuckte mit den Schultern und fing an zu lachen. Der Globus rieche so trocken.
    Mesmer nahm ihren Finger und führte ihn um die halbe Kugel herum. Hier, sagte er. Genau hier stehen wir. Sie und ich. Und genau hier werden Sie Sehen lernen.

    Am Tag danach war es sein Fernrohr, das sie mit den Augen nicht, erst mit den Fingern wiedererkannte. Erst eine Weltkugel und jetzt das Fernrohr, dachte sie. Mit einem Fernrohrkönne man das, was bisher nur Zauberer konnten, hatte ihr Geographielehrer gesagt. Man könne die Sterne auf die Erde herabholen. Alles Ferne hole man zu sich heran. Das Fernrohr verwandle Ferne in Nähe. Es hatte ein bisschen gedauert, bis sie verstand, dass man, was man sich so heranholte, nicht begreifen konnte. Das war eben das Zauberhafte daran. Und heute. Was hat er heute dabei?
    Etwas Großartiges, sagt er.
    Sie hört ihn das Ding auf den Tisch stellen.
    Heute, sagt er, spielen wir »Anfassen verboten«. Und heute halten wir uns daran.
    Wir?, sagt sie.
    Er zögert. Sie, sagt er.
    Ich, sagt sie. Und Sie?
    Ich, sagt er.
    Verstehe, sagt sie. Ob es wieder etwas aus seinem Laboratorium sei? Wieder so ein Zaubergerät?
    Erstens stünden im Laboratorium keine Zaubergeräte herum, sagt er, sondern wissenschaftliche Messgeräte. Zweitens solle sie schauen, nicht raten.
    Sie streckt, wie gewohnt, die Arme aus. Er steht hinter ihr, greift unter ihren Achseln hindurch nach ihren Händen. Zieht die Arme sacht zurück an ihren Körper. Sie denkt, sie riecht ihn, und er riecht so, wie Pfeffer schmeckt. Grund genug, die Arme erneut zu strecken.
    Augen auf, sagt er.
    Die Hände am Körper und nichts anfassen dürfen ist, als habe man sie ihr amputiert. Wie den auf den Schlachtfeldern von Kalin und Olmütz Verwundeten, von denen der Graferzählt hatte. Die Glieder unheilbar durchschossen. Sie schrien schon vor dem Amputieren. Sie schrien, sobald sie bei Bewusstsein waren. Ob er schon mal Hände amputiert habe, fragt sie?
    Wie sie darauf komme, ihre Hände seien nicht vergleichbar mit denen von Soldaten, sagt er. Soldaten haben Kriegshände. Ihre seien aus Gold.
    Wie die Ihren, sagt sie.
    Würde die Kaiserin sonst investieren?
    Gewiss doch, sagt Maria. Die Kaiserin habe gegen Preußen zu bestehen. Für den Krieg könne sie jedes Händchen brauchen. Ob golden oder nicht. Allerdings sage ihr Vater, inzwischen sei der Kaiserin die Musik lieber als der Krieg.
    Wem nicht, sagt er. Und jetzt bitte Augen auf.
    Erst wenn er ihr verrate, wie man das mache. Eine Hand amputieren.
    Mit einer Säge.
    Ob er das auch schon getan habe?
    Also bitte, sagt er. Ja. Und ihre Augen hätten noch viel zu lernen, sagt er. Also: Schauen Sie. Was steht da auf dem Tisch?
    Sie will ja, aber sie kann sich nicht an die Spielregel halten. Ihre Arme strecken sich wie von selbst. Und er mit seinen wunderbar warmen Händen zieht sie wieder zurück.
    Dieses sinnlose Augenaufmachen! Warum quält er sie. Blöder Arsch.
    Zwecklos, sagt sie. Sie wisse es nicht.
    Gehen Sie näher ran, sagt er.
    Warum sie nicht hinfassen dürfe? Nur kurz. Einen Augenblick lang. Ob er ihre Geduld auf die Probe stellen wolle?
    Nein, sagt er. Sie seine vielleicht? Augen auf.
    Wiederholen bringe nichts.
    Ob sie etwas sehe?
    Woher solle sie das wissen?
    Und was steht da?
    Keine Ahnung. Etwas.
    Dunkel und hell? Heller und dunkler?
    Sie sei kein Papagei. Und deshalb jetzt lieber still, sagt sie. Und fügt hinzu, man kann es gar nicht anfassen.
    Was, sagt er. Was kann man nicht anfassen?
    Sie nennt es Stellen . Die Stellen könne sie nicht anfassen.
    Flecken, sagt er. Gratuliere, sagt er. Sie sehen Flecken. Hell und dunkel.
    Der dritte große Fortschritt seiner Behandlung, notiert er.

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