Am Anfang war die Nacht Musik
der arme Riedinger hetzt durch ein nervöses, viel zu schnelles Andantino affectuoso . Als sich dann als dritte Stimme auch noch die Türglocke einmischt, einmal, zweimal, dreimal, ist klar, dass sich jetzt keine Harmonie mehr herstellen lässt.
Kaline hört entweder nichts oder will nichts hören. Oder ist sie geflohen? Ausgeflogen mit den Tauben. Wohin, dafür reicht die Phantasie im Moment nicht aus.
Mesmer, der Türöffner, verlässt seine Patienten im Zuber, um einen jungen Mann einzulassen. Der, als sei das der Zweckdes Besuches, wünscht ihm, über das Hämmern hinweg, einen wunderschönen guten Tag. Und übergibt ihm ein Schreiben aus der kaiserlich-königlichen Amtskanzlei. Dazu braucht man keine Augen. Das fühlt man schon am Papier.
Endlich. Endlich hat der Hofsekretär der Kaiserin gesteckt, wovon sowieso bald jeder in Wien reden wird. Von der neuen, der heilenden Methode. Gefunden von ihm, Mesmer, der suchte und suchte. Bis Gott ihm zuteil werden ließ.
Der Brief, der sein Leben zweiteilen wird. In das trübe Vorher und das aufgeblühte Danach. Ein Leben, von dem die Kaiserin nichts weiß, und das Leben der Kaiserin, in seinem Namen. Das Leben im Schatten, das Leben an der Sonne. Ante und post . Jenseits. Diesseits. Ausatmen, halten und … einatmen. Es ist sein altes Leben, aus dem heraus er den blonden Götterboten betrachtet. Den Überbringer einer glänzenden Zukunft. Während die Hände das Papier auffalten. Besondere Nachrichten, ist es nicht so, werden von besonderen Boten gebracht. Die aussehen wie Prinzen, Söhne des Lichts. Regelmäßige Zähne, schneeweiße Manschetten. Das lange, zurückgebundene Haar unter einer Pelzkappe. Und draußen ein schweißglänzender, weißer Hengst.
Aber Herr Paradis fasst sich kurz. Sein Schreiben schreibt den enttäuschten Mesmer so fest in sein altes Leben, dass jegliches Denken an ein neues sofort erstirbt. Genau genommen besteht der Brief aus nichts als dem Konstatieren einer Tatsache.
Morgen, gleich morgen am frühen Vormittag, werde der Hofsekretär ihn aufsuchen, um zu sehen, wie weit die Tochter fortgeschritten sei. Hochachtungsvoll. Mit übergroßer, inden Kanten blutiger Sepia-Signatur und ein paar Klecksen. Weiter nichts. Das Maß aller Dinge. Der Hofsekretär. Keine Kaiserin, keine Patientin, kein Arzt.
Dass das Ehepaar Paradis hier einfach so einfallen wird, um seinen gesamten Therapie- und Zeitplan durcheinanderzuwerfen, das wird er um jeden Preis verhindern. Beim zweiten Blick auf den Boten fällt Mesmer auf, dass der mindestens einen halben Kopf größer ist als er selbst. Wie hochnäsig er auf ihn herablächelt. Nein, er grinst. Und riecht. Völlig verranzt unterm Zitronenwasser.
Mesmer lässt ihn vor dem Laboratorium stehen. Er solle die Antwort an seine Herrschaft gleich wieder mitnehmen.
Jetzt also auch noch einen Brief schreiben. Als genüge es nicht, dass im Zuber Patienten warten und Riedinger gegen den Kutscher angeigt, der mit seinem Hammer das Haus erschüttert, sodass Kaline zusammen mit den Tauben das Weite gesucht hat.
Morgen unmöglich, schreibt er und unterstreicht Wort um Wort. Aber es genügt nicht. Von ihm erwartet man Begründungen. Das ist die größte Zumutung. Dieser Begründungszwang. Er beginnt von vorn.
Man dürfe den Prozess, in dem die Tochter so offensichtliche Fortschritte mache, auf keinen Fall unterbrechen. Er bitte um Geduld, schreibt er. Diesen einen Tag brauche ich noch. Mit Ihrer Tochter allein. Sie weiß inzwischen, was von ihr verlangt wird. Sie weiß, was auf dem Spiel steht. Sie tut, was man ihr sagt. Ich staune. Und Sie. Sie werden staunen. Wie das Mädchen sich konzentriert. Auf alles, was man vor sie hinstellt. Wie sie zu blicken versucht. Und wie sie schauen kann. Siewerden sie nicht wiedererkennen! Sie erkennt Gegenstände. Den Globus auf dem Tisch. Das Fernrohr und das Fortepiano. Das Mikroskop. Folianten der Bibliothek. Ihre Perücke. Den Perückenständer und was man so vor sie hinstellt.
Das Fehlen von Menschen in dieser Liste solle dem Vater keine Sorgen bereiten. Der Mensch, der Höhepunkt dieser Geschichte, sei die nächste Stufe. Davon, schreibt Mesmer, erwarte ich viel. Ich? Er streicht das Ich. Schreibt ein Sie darüber. Davon erwarte sie viel. Kruzitürken. Jetzt muss er alles noch mal schreiben.
Maria freut sich auf Menschen. Sie ist neugierig. Auch auf sich selbst. Morgen ist es so weit. Sein großer Tag. Ihr großer Tag. Ihrer beider großer Tag.
Er, Mesmer, wird der Erste
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