Am Anfang war die Nacht Musik
Zur Belohnung darf sie die Flecken ertasten.
Sie hätte ihm eine kleben können. Doch da ist nichts.
Sie schlägt mit den Händen um sich. Nichts. Nur Luft. Sie stolpert. Fällt hin. Rappelt sich auf.
Übrigens fühle sie plötzlich ihr Gesicht nicht mehr.
Keine Angst, das legt sich wieder, sagt er und zieht sie hoch.
Er ist wie ihr Vater. Er nimmt sie nicht ernst. Kein bisschen. Ihr Gesicht beginnt zu zucken. In altbekannter Reihenfolge. Augen, Wangen, Mund. Arme, Beine. Sie könnte alles kurz und klein schlagen. Allem voran den Herrn Doktor Mesmer. Was er Flecken nennt, fängt an zu brennen. Brennen und jucken. Augen schließen hilft nicht. Die Hände helfen nicht. Nichts hilft. Sich auf den Boden werfen, heulen.
Sie verschwende Zeit, schreit sie. Jeder wolle nur sehen, wie sie sehe. Das sei abartig. Sie sagt, er habe ihr genug beigebracht. Genug sei genug.
Als er nichts sagt, schreit sie, er solle sie in Ruhe lassen. Verschwinden. Aus ihrem Leben. Sie wolle bleiben, wie sie sei.
Dafür, sagt er, sei es zu spät. Sie habe sich bereits verändert. Er wisse es. Sie wisse es. Und bald auch alle Welt.
Nein, schreit sie.
Warum dann ihre Augen nicht mehr herausstünden? Und sie plötzlich Gerüche beschreibe?
Gut, sagt sie, er habe recht. Die Augen hätten sich verändert. Und die Nase. Mehr sei nicht nötig. Warum sollte sie sich überhaupt verändern wollen. Warum er das verlange?
Er verlange es doch gar nicht.
Sie sei zufrieden. Mit sich. Ihrem Leben. Sehen, wozu denn? Klavier spielen kann ich auch ohne.
Jetzt klinge sie wie ihr Vater, sagt er.
Sie wendet ihm erschrocken den Kopf zu.
Na denn, sagt er, wickelt ihr die Binde um.
Er nimmt es wieder mit. Das großartige, unbekannte Ding. Zur Strafe. Sie hat gehofft, es bliebe stehen. Sie hätte sich draufgestürzt. Es nach Lust und Laune betatscht und beschnüffelt. Danach war ihr jetzt. Und vielleicht hätte sie es zerquetscht. Kurz und klein geschlagen. Die Treppe hinabgeworfen, die sie jetzt hinabrennt, zum Klavier, wohin sonst. Um endlich ihren Kopf zu leeren von diesem großartigen, unbekannten Ding.
Die Augenbinde legt sie ab, blinzelt auf die Tastatur. Dritter Satz des Haydn-Konzerts. Ein Rondo. Genauer, die ersten zehn Takte. Wenn sie stolpert, wiederholt sie. Sie stolpert oft heute. Öfter als sonst.
Sie nimmt sich die Stellen vor. Der ganze Nachmittag besteht aus Stolperstellen. Es klingt, wie wenn Kaline Zwiebelnhackt. Dabei ist es ein Rondo! Das Leichtigkeit atmen sollte! Unhörbaren Fingerwechsel. Ihre Finger funktionieren nicht.
Schluss für heute. Schluss, ehe sie noch weitere Rückschritte macht.
Vor dem heutigen Tag bitte in Acht nehmen. Es gibt Wolfsrachen-Tage, denkt sie. Die versuchen, alles zu vernichten, zu fressen, was man an vielen lammfrommen Tagen erarbeitet hat. Sie muss sich verwahren. An einem friedlichen Ort. Und wo ist es friedlicher, als dort, wo Tauben wohnen?
In ihrer Kammer Stille. Eine fremde Stille. Eine geladene. Wo sind die Tauben? Sie bleibt stehen. Nicht mal schlafende Tauben? Wahrscheinlich ist es später, als sie denkt. Sind da Flecken oder täuscht sie sich? Die Flecken scheinen verlässlich. Wenigstens das. Verlässlich in ihrem unruhigen Flackern und Zittern. Wie sie selbst. Sie wickelt sich die Augenbinde wieder um. Stellt sich vor, sie habe ihre Augen jetzt versorgt, zu Bett gebracht. Wie das Kindermädchen sie früher zu Bett brachte. Jetzt können sie sich ausruhen, Maria und ihre Augen. Gemütlich im Sessel dösen. Diesen Tag aus sicherer Höhe an sich vorbeiziehen lassen.
Es raschelt im Zimmer. Eine hereinverirrte Taube? Das Rascheln klingt nicht nach Federn.
Hallo, sagt Maria und erhält eine raschelnde Antwort. Einzig bekannt in diesem Rätsel das leise, erstickte Geklingel. Sie geht den Geräuschen nach. Läuten und Rascheln fliehen vor ihr. Sobald sie sich regt, regen sie sich auch. Bleibt sie stehen, stehen die Geräusche still.
Sie hält inne. Fängt an zu summen, senkt den Kopf. Schlägt plötzlich los. Arme nach vorn wie bei Blinde Kuh, schnell. Aufder Jagd durchs Zimmer fängt Maria ein Kleid, eine Frau. Sie verkrallt sich in ihre Beute.
Aua, sagt Kaline. Aua, und, tut mir leid.
Wie bekannt-unbekannt sich das anfühlt: Marias Kleid. Kalines Leib. Marias Perücke. Kalines Hals. Ihr Kinn, ihre Ohren. Kalines Ohrläppchen. Marias Ohrringe baumeln daran. Kalines stramme Oberarme, ihr weiches Dekolleté und ein bisschen zu viel Kleid für zu wenig Busen und diese fremden Übergänge
Weitere Kostenlose Bücher