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Am Anfang war die Nacht Musik

Am Anfang war die Nacht Musik

Titel: Am Anfang war die Nacht Musik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alissa Walser
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sein. Der, auf den sie die Augen richtet. Der Erste, den sie kennen wird. So etwas lässt er sich nicht durch einen ungeduldigen Vater verderben.
    Im Moment werden die Fenster befreit. Es darf wieder hell werden in dem seit Jahren verdunkelten Stübchen. Mesmer streicht den Satz. Er zerknüllt den Brief, tritt vor die Tür. Der Bote ist verschwunden. Stattdessen die Anwesenheit Kalines. Zumindest akustisch. Ihr aufforderndes, hohes Mädchenlachen klingt zwischen Hammer und Geige. Sein Instinkt sagt Mesmer, dass er, um den Boten zu finden, nur dem Lachen folgen muss. Das Lachen führt ihn zur Küche. Wo der Bote im Türrahmen lehnt und Blicke tauscht und Wort für Wort belohnt wird. Jede Andeutung einer Geste, jeder Versuch einer Gebärde wird belohnt von ihrem hellen Lachen.
    Sagen Sie, unterbricht Mesmer, sagen Sie Herrn Paradis, dass ich morgen leider verhindert bin. Einen Tag später aber,übermorgen, am Vormittag, erwarte er ihn. Und jetzt ab. Er habe zu tun. Herumstehen und andere von der Arbeit abhalten, das könne sich vielleicht ein Bote leisten. Ein Arzt nicht. Und ein Hausmädchen schon gar nicht, will er hinzufügen, verkneift es sich aber, nachdem Kaline ihn erst verärgert, dann flehend ansieht, und dann vorausschauend den Kopf senkt, in ihre Schürze greift und ihm von dort einen Brief aushändigt.
    Den habe der Bote gebracht, der heute Vormittag den kleinen Kornmann abgeholt habe.
    Abgeholt?
    Wie sehr ihn das überrascht, muss Kaline nicht wissen.
    Zurück in seinem Zimmer liest er als Erstes Bankier Kornmanns Dankesschreiben. Mesmer habe das Teuerste, was er besitze, gerettet, seinen lieben Sohn. Leider habe er nicht persönlich nach Wien kommen können, um den Kleinen zu holen. Diesmal sei der Grund nicht außen zu suchen. Vielmehr seien es Turbulenzen im innersten Kreis, dem der Familie, die sein Reisen unmöglich machten. Er schicke den Diener, seinen treuesten. Im Coupé, seinem schnellsten. Davor die ausdauerndsten Pferde. Damit sie seinen Benjamin nach Hause holten. In tiefer Dankbarkeit.
    Er liest es noch einmal. Zweimal. Dreimal …
23. März 1777
    Es ist still im Haus. Der Kutscher hat gute Arbeit geleistet. Das Ergebnis ist Begeisterung, und auch Mesmer überzeugt es. Trotz der kleinen Fenster ist das Dachstübchen lichter als die Räume der unteren Stockwerke. Ein vollwertiges Zimmer.
    Wie hoch oben man hier sei. Und wie weit man schauen könne. Über den ganzen Himmel. Und die halbe Erde. Bis hinüber in die Prater-Auen. Wo er seine Kinderzeiten herumspazieren sehe. Der Kutscher überschlägt sich schier. Was allerdings die Tauben angeht, ist er pessimistisch. Die Tauben werden zurückkehren. Und hier heraufziehen. Er kenne die Tauben. Sie lassen sich nicht vertreiben. Aber er werde sich etwas überlegen. Was der Kutscher überlegt, wird gut. Rom ist also nicht verloren, und das Dachstübchen noch nicht den Tauben in die Krallen gefallen.

    Sie ist bereit, und er stellt sich vor sie hin. Steht, wie er immer steht, in violetten Samt gekleidet, stabil, getragen. Streicht ein Hundehaar vom Ärmel. Summt leise dazu. Sieht, wie sie den Kopf leicht hebt. Als nehme sie Witterung auf.
    Riesig, sagt sie. Wenn sie Wiederholungen nicht überflüssig fände, würde sie jetzt sagen, er sei umwerfend.
    Warum sie sich nicht an die Abmachung halte. Noch solle sie nicht schauen.
    Sie halte sich dran, sagt sie. Ihre Augen seien geschlossen. Schauen Sie, wie zu meine Augen sind.
    Dann solle sie bitte aufhören zu raten, sagt er.
    Sie rate nicht.
    Woher sie es dann wisse?
    Was?
    Dass er umwerfend sei.
    Sie ahne es. Und höre es. So ein Tenor!
    Dass er eine große Stimme habe, hat er oft genug gehört. Genauso, dass Violett seine Farbe sei. Von seiner Mutter, vomPfarrer, von den Patientinnen. Später von Anna. Irgendwann hat er angefangen, das an sich zu finden, was jene ihm zusprachen. Irgendwann hat er es gefunden. Er hat gelernt, sich mit den Augen seiner Mutter zu sehen. Diese kleine, eher zierliche Frau, die er nur barsch kennt. Aber nur barsch, weil sie sich dafür schämte, stolz auf ihn zu sein. Franz Anton. Eins zweiundsiebzig. Kompakt. Nicht mager, nicht dick. Ein genau bemessener Riese. Der alles kann, beten und singen und schwimmen. Und rechnen. Und zeichnen kann er auch. Und jagen. Die Liste ist endlos. Die Lehrer verhaspeln sich bei so viel Talent. Und er hat das Leuchten in ihren Augen gesehen. Den Stolz. Und wie sich im Keim dieses Anfalls von Zärtlichkeit Wut formte, die ihr Kinn nach vorn

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