Am Anfang war die Nacht Musik
zwischen Taft und Haut und Spitzen und flaumigem Haar!
Es tue ihr entsetzlich leid.
Maria fällt nichts ein als, Was ihr denn einfalle!
Kaline! Diebin. Elster. Sofort ausziehen. Auf der Stelle. Hier wimmle es nur so von blöden Ärschen. Sie habe die Nase gestrichen voll von diesem …
Sie habe doch nur mal sehen wollen, sagt Kaline, was so ein Kleid aus ihr …
Mal sehen wollen, schreit Maria, mache offenbar nichts als komplett schwachsinnig.
Sie hört Kaline sich ausziehen. Hülle um Hülle fällt, wird, ehe die nächste folgt, zusammengelegt. Taftkleid. Schnürbrust. Leibchen. Unterrock eins, Unterrock zwei und drei. Zuletzt Kaline, nackt, mit Turmperücke auf dem Kopf. Was für ein dumpfer Ton. Hell dagegen das Klimpern der Haarnadeln, die jetzt eine nach der andern auf dem Tisch landen.
Entschuldigung, murmelt Kaline. Hätte sie gewusst, wie schlimm es für das Fräulein sei, hätte sie sich beherrscht.
Beherrscht?, ruft Maria, während Kaline in die eigenen Kleider steigt, die klingen wie leere Kartoffelsäcke, die man auf einen Haufen wirft, um sie zu verbrennen. Sie wisse doch garnicht, was das sei. Sie sei doch durch und durch von anderen beherrscht.
Ach, das Fräulein könne so gebildet reden, sagt Kaline. Sei überhaupt so klug. Und verstehe doch sicher, dass der Doktor nichts erfahren dürfe. Was der erfahre, erfahre seine Frau. Dazu brauche man keine Klugheit, um zu wissen, was, auch wenn man nicht wisse, wie. Also bitte, sie verliere sonst ihre Stelle.
Selber schuld, schreit Maria und fängt an zu weinen.
Und Kaline sagt nichts mehr, stimmt ein.
Zwei Frauen auf dem Bett, die sich leer weinen und anfangen, einander zu trösten.
Maria, um etwas Nettes zu sagen, sagt, sie beneide Kaline. Kaline könne sehen.
Das sei keine Kunst. Und zu beneiden eher das Fräulein. Das so viel kann. Ich selbst kann gar nichts, sagt sie. Und von allem, was sie nicht kann, vermisse sie am meisten das Lesen. Nichtlesenkönnen sei wie nicht laufen können. Sie sei drauf angewiesen, dass man ihr vorlese.
Maria doch auch. Sie könne nur mit den pestalozzi’schen Täfelchen lesen. Ansonsten sei sie auf Hilfe angewiesen. Das meine in dem Falle den Vater. Und wer, sagt sie, ist es bei dir?
Hmh, sagt Kaline. Mein Vater kann nicht lesen.
Wer dann?
Könne sie nicht verraten. Ein Geheimnis.
Ich behalt’s für mich, sagt Maria.
Sicher?
Ehrenwort.
Das Ende, wenn es herauskäme!
Das Ende von was?, sagt Maria.
Von allem.
Es sei doch schon alles zu Ende. Maria lacht, als Kaline zusammenzuckt. Sag schon, wer? Der Doktor? Ein Patient? Wer?
Er, sagt Kaline. Nacht für Nacht. Wenn das Haus schläft.
Wer?
Nein, sie verrate es nicht, sagt Kaline. Nur, dass er einmal spätabends heiße Milch verlangt habe. Wegen ihm hocke sie halbe Nächte in der Küche. Kaum hatte sie ihm die Milch gebracht, habe er gesagt, sie solle sie auf den Tisch stellen. Dann habe er plötzlich die Tür zugesperrt. Von innen. Sie solle sich’s bequem machen.
Und, hat sie es getan?, sagt Maria.
Erst sei sie zur Tür gegangen. Aber er habe sie am Handgelenk gehalten. Sie zum Sessel geführt. Sie habe sich gesträubt und hingesetzt. Kaline kichert. Warum nicht. Er habe ihr vorgelesen aus einem berühmten Buch. Und wie spannend! Blöde nur, dass es sie sofort hineingerissen habe. Sie denke den ganzen Tag nur noch an die abendliche Vertrautheit, an das Fräulein in dem Buch. Die habe immer so schöne Kleider an. Und da habe sie sich auch mal so sehen wollen …
Wie das Buch heiße?
Weiß nicht. Eine Liebesgeschichte. Aus dem Leben. Nicht aus ihrem.
Ihr Vater lese ihr aus der Bibel vor, sagt Maria. Die kenne sie praktisch auswendig. Und Gellert und manches von Klopstock. Aber ums Leben mache ihr Vater einen Bogen wie um verpestete Häuser. Da sei sie auf ihre Freundinnen angewiesen, und auf Opernbesuche.
Ob sie noch ein Geheimnis wissen wolle?, sagt Kaline.
Sie warte doch noch auf das erste. Auch wenn sie sich’s denken könne.
Wie bitte?
Der Graf, sagt Maria.
Wie sie draufkäme?
Ist doch klar, sagt Maria. Es ist doch immer der Graf. In jeder Oper, in jedem Roman ist es der Graf.
Sie müsse gehen. Kaline steht auf. Sie habe noch viel zu tun. Das müsse erledigt sein. Sie wolle die eine Stunde nicht gefährden. Sie sei so neugierig.
Sie zupft ihre Kleider zurecht.
Nein, sagt sie und geht zur Tür. Es sei mehr als Neugier. Es sei wie Laufen lernen … oder wie Sehen.
Verstehe, sagt Maria.
Langsam und unsicher steigt Kaline die Treppe
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