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Am Anfang war die Nacht Musik

Am Anfang war die Nacht Musik

Titel: Am Anfang war die Nacht Musik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alissa Walser
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nennt. Wenn sich Gesichter tosend verzerren. Oder einer kaum wahrnehmbar zu schreien beginnt. Oder wenn sie reden reden reden. Sich nach ihm, der sie beschreibt, verzehren. Seine Gedanken aussprechen. Oder ihn hassen oder sich selbst, die Beschriebenen. Er muss Gefühlsstürme notieren. Die Ozeane von Tränen.
    Was er nicht messen kann, muss er aufschreiben. Er muss eine Messmethode finden. Einen Apparat bauen. Ihn wenigstens beschreiben. Als handle es sich um eine Elektrisiermaschine. Wie heutzutage sich jeder Trottel eine baut. Die magnetische Kraft ist stark. So stark wie die elektrische. Nur feiner ist sie. Und nie zerstörerisch. Das heißt: umso brauchbarer. Die Zukunft wird es zeigen. Wenn er es schafft. Das zu übersetzen. In eine Sprache der Vernunft.
    All das, was Störck nie aufschreiben können wird. Weil er nur Gemessenes aufschreiben kann. Störcks Hände. Seine feisten, rosaroten Arzthände. Kurz geschnittene Nägel, gepflegte Kuppen, geschickte, gelehrige, fleißige, reinliche Finger. Aber taub für das Wesentliche. Deshalb auch fehlt dem Baron jegliche Vorstellung davon, was mit Händen möglich ist. Das sollte, könnte, müsste er endlich aufschreiben. Keiner außer ihm kann es können. Er muss auf jeden Fall die Reichweite seiner Hände, die begrenzt ist, ausdehnen. Er muss mehr Menschen als die erreichen, die er mit seinen Händen erreicht.
    Schreiben kann er, lesen kann er. Immer mehr Menschen können schreiben und lesen. Alle wollen, dass er etwas verrät. Etwas von seiner Methode. Aber da ist kein Geheimnis. Nur, dass er daran glaubt, mit den Worten zu seiner Methode mehr Menschen zu erreichen als mit seinen Händen. Nicht seine Methode, sondern der Verrat seiner Methode ist die Eintrittskarte für die Akademien. Aber diese Gedanken muss er geheim halten. Noch. Er kann sie nicht einfach aus der Hand geben. Nicht wahllos aussenden in die Ferne, ohne zu wissen, in wessen Hände sie geraten. Die Welt wimmelt von fingrigen Scharlatanen, Quacksalbern, Möchtegern-Ärzten, Kranken-Betrügern, Geldschefflern, Schein-Heilern und Diebstehlern.
    Außerdem eignet sich nicht jede Erfahrung dazu, aufgeschrieben zu werden. Seine am allerwenigsten. Er kann, was er tut, nur tun. Und die magnetische Kraft erledigt den Rest. Sie tut, was sie will. Einfangen lässt sie sich nicht. Sie lässt sich vielleicht, wie Licht, durch Spiegel vermehren, sie lässt sich auch durch Schall fortpflanzen und vermehren. Aber ansonsten ist sie ein Rätsel. Ein nicht einfangbares Rätsel. Einströmendes Rätsel, für das es keine Sprache gibt. Zumindest keine, die er beherrscht. Und darum geht es doch in dem, was sich Wissenschaft nennt. Um das Beherrschen. Und Zursprachebringen. Um das Zähmen. Das Zeichnen. Das Anschaulichmachen. Das Wiederholbarmachen. Und Repräsentieren.

    Er hatte Störcks Text gerade zurück ins Regal gestellt, als es klopfte und der Kutscher ihm durch den Türspalt zwei Briefe hereinreichte. Seit er Kaline Schonung verordnet hatte und sie nur noch in ihrer Kammer auf dem Bett lag, überforderte der Kutscher sich in dem Versuch, Kutscher und Hausmädchen in einem zu sein. Wirbelte vom frühen Morgen bis zum späten Abend zwischen Haus und Stall hin und her.
    Mesmer winkte ihn herein. Er sehe so schmal aus, er solle pausieren.
    Draußen, antwortete der Kutscher, warte eine Menschenmenge und im Keller die Wäsche, die gefaltet sein wolle.
    Vielleicht, hatte Mesmer gesagt, sei es angebracht, das vordere Tor zu schließen.
    Der Kutscher wich seinem Blick aus. Murmelte, seit er hier arbeite, könne er sich nicht erinnern, dass das vordere Tor je geschlossen gewesen sei.
    Der erste Brief, der Störck’sche, in der typisch störckeligen Schönschrift, war eine in scharfem Ton verfasste Forderung.
    Mesmer solle sofort das Fräulein herausgeben. Seine Betrügereien müssten endlich ein Ende haben, sonst werde der Baron Maßnahmen einleiten.
    Dass das Ende so abrupt vor der Tür stehen könnte, hatte Mesmer sich nicht vorgestellt. So wenig, wie er sich vorgestellthatte, dass der vernünftige und meist freundliche Störck, der fleißige und sorgfältige Pflanzenkenner, so hart, so ungerecht von ihm sprechen könnte. Immerhin war er ja nicht nur sein Trauzeuge gewesen, sondern auch Zeuge von Marias Fortschritten. Der Brief war umso schmerzlicher, als er Störck schätzte. Seinen Eifer. Und den Mann, der so glühend das verfolgte, was er selbst suchte. Die Wahrheit. Und jetzt benahm er sich, als sei die Wahrheit eine

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