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Am Anfang war die Nacht Musik

Am Anfang war die Nacht Musik

Titel: Am Anfang war die Nacht Musik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alissa Walser
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hat. Ein Wort, das er ihm angehängt hat wie einen noch für jedes Fluidum der Welt zu schweren Magneten. Das ist unerträglich. Auch wenn es ja vielleicht nur heißen soll, dass er in dieser Sprache, die in Wien gesprochen wird, nie einen Fuß auf den Boden des akademischen Himmels setzen wird.

    Wassergeräusche kreiseln in seinem Kopf, als suchten sie einen Abfluss. Den Bach, den Strom, das Meer. Er stellt sich ansFenster. Spürt die vom wuchtigen Mühlrad her durchnässte Luft auf der Haut. Atmet die alles durchdringende Gischt ein. Atmet das Fließen. Den Mühlbach. Die Kraft. Spült sich fort. Ohne dass er aufhört zu denken. Er denkt, denkt er, er wird weiterdenken.
    Er wird denken ohne Worte.

Sechzehntes Kapitel
Gutenbrunn, 1777
    Was sie hier braucht, ist eine klare Stimme. So kraftvoll und durchdringend wie der Chor der Tiere. Der Chor der Bienen. Der Chor der Hummeln, der Heuschrecken und Grillen und Fliegen. Der Chor der weiblichen Mücken, die vor allem (wie im Banat) den Vater traktieren. Um sich von denen zu unterscheiden, spricht Maria leise. Und viel zu sanft.
    Ob sie ihm etwas diktieren dürfe?
    Was du willst, Resi!
    Einen Brief.
    An wen?
    Mesmer!
    Bitte nicht diesen Namen. Warum sich aufhalten mit Leuten, die einem schaden.
    Ihr habe er geholfen.
    Das bilde sie sich ein.
    Ihre Einbildung sei eins. Das andere, dass sie den Doktor etwas fragen wolle.
    So ging es seit Tagen hin und her.

    Was bleibt ihr übrig, als den Brief, den sie nicht diktieren darf, auswendig zu lernen. Zu hoffen, das Auswendiggelernte finde einen, der es zu Papier bringt. Irgendwann.
    Zuerst die Überschrift: Gutenbrunn im Mai, Guten Tag, lieber Mesmer …
    Wie kann ich danken. Danken für die vergangene Wirklichkeit. Und für dieses hier auf dem Land zwischen Kühen und Schafen und Schweinen so fremde Geschenk Ihrer lieben Frau Anna, die mir so lieb durch die Gedanken läuft. Die Hina ningyo , diese Puppe mit Haaren wie Seide, lege sie kaum mehr aus der Hand. Und wenn sie auf dem hiesigen (stumpfen, dumpfen) Klavier spiele, dann mit einer Hand, oder die Hina ningyo sitzt da, wo keine Noten stehen. Sie ist so weich und beweglich. So, lieber, ferner Wissenschaftler, wie ich es gern wäre. Die Hina ist es, die mich streichelt, wenn ich sie streichle.
    Ihr Vater sei nicht davon abzubringen, dass alles nur Phantasie war. Und was sie gesehen habe, nur ein beschriebenes Bild. Wie das Portrait an der Wand nicht die Wirklichkeit. Alles ein einziger Betrug mit dem Effekt eines zerrütteten Nervenkostüms. So sagt er es. Nun, wenn der Vater es sagt, wird es wohl wahr sein. Und damit steht sie also von nun an aufseiten der Lüge. Das ist die Wahrheit. An die ich mich erst noch gewöhnen muss.
    Ob der Vater denn ihre Fortschritte nicht mit eigenen Augen gesehen habe? Und trotzdem sagt er: Fortschritt, das sei, wenn sie wieder spiele wie vor dem ganzen Hokuspokus! Dafür wolle er sorgen.
    Dafür vielleicht, habe sie sofort geantwortet. Aber nicht dafür, dass meine Fragen beantwortet werden.
    Nur sofern sie den Betrüger beträfen, Resi, dies zu sagen und immer wieder, lasse er sich nicht nehmen.
    Lieber, guter, Violetter, ist es da nicht verständlich, dass es mir allemal lieber ist, aufseiten des Auswendiggelernten zu stehen, egal, was Riedinger dazu meint?
    Sie habe die Anreise nach den wienfernen Hügeln nicht einmal versucht zu sehen. Habe, als sie das Mesmer’sche Anwesen verließen, die Augen geschlossen und die Seidenschichten darübergestülpt. Halte es so, wann immer sie könne.
    Das helfe allerdings nicht gegen die, wie ihre Mutter sie schönredet, schneeweiße Milch, mit der sie hier Tag für Tag ihre Gesundung vorantreiben muss. Die riecht, lieber Mesmer, nach Kuh. (Die Nase lässt sich ja nicht auch noch schließen.) Und sie schmeckt nach Kuh. Ach, sie wisse ja, dass er die Tiere schätze. Weil er sie, die ja nichts wüssten, für magnetische Wesen halte. Daran habe sie heute Mittag gedacht, als sie an der Weide stand und die Fragen den Kühen vorgesungen habe. Sie sei sich kleiner als klein vorgekommen.
    Der Vater weigere sich, Fragen zu beantworten, solange sie sie singe.
    Er überlege, ob man den Dr. Störck zu Rate ziehen solle.
    Ob er ihr drohen wolle?
    Wie denn, mit Milch und Honig?
    Jeden Abend steht Milch an meinem Bett und wird kalt.
    Sie beneide sich um ihre Zeit im Palais an der Landstraße. Heute sei ihr klar geworden, dass die Möglichkeit, alles sagen zu können, es unnötig mache, alles zu sagen. Vielleicht sei

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