Am Anfang war die Nacht Musik
überfliegen. Vor allem Rücken- und Gliederschmerzen überfliegen. Schmerzende Hinterteile wie sich aufdrängende Gedanken. Wie die an die Linné’sche Sexualität der Pflanzen zum Beispiel.
Auch der Abstecher an den Bodensee, den er gemacht hatte, wäre fliegenderweise leichter zu verschmerzen gewesen. Er hatte die Eltern sehen wollen. Den See. Das frische Schilf. Und die zum Wasser hingeneigten Wiesen, die um diese Zeit außerdem in die Höhe schossen. Und unter den Bäumen das aufmüpfige Blühen der Masse. Und den See, der nie jüngerwirkt, nie weicher als im Frühsommer. Verglichen mit dem Mühlbach vor seinem Fenster, ein verschlafener, Sonne spiegelnder Riese. Den es zuwächst von allen Seiten. Bis das Ufer im Grün untertaucht. Und keiner weiß, von woher die Männer mit den Äxten ins knietiefe Wasser gelangt sind. Wo sie auf die Fische lauern, die zum Laichen ans Ufer gezogenen. Reiche Beute für den Abend.
Das Gesicht seiner Mutter, als er sie dort in der Küche überraschte. Wie ihr Gesicht auflodert. Und sich gleich wieder verdüstert. Als könne sie sich nicht freuen. Doch, sie kann sich freuen. Er weiß es. So wie er weiß, dass ihre Freude schon immer diesen Vorwurfston bewirkt. Als wäre Freude eine Zumutung. Zu viel des Guten.
Wo er denn so lange gesteckt habe. Sie habe ihn früher erwartet. Zu Ostern schon. In der Zeitung, im Constanzischen Wochenblatt habe man über ihn geschrieben. So weit sei es also. Von ihrem eigenen Sohn erfahre sie aus der Zeitung. Die sie nicht lesen könne. Der Pfarrer habe müssen so nett sein. Ihr vorlesen. Was da stand. Über ihren Sohn. Und dass er ausgerechnet heute komme. Ausgerechnet jetzt. Wo der Vater abgereist sei. Zum Fürstbischof. Und vor nächster Woche nicht zurück.
Im Übrigen, hatte sie gesagt, sehe er so schlecht aus wie nie. Sie habe immer gewusst, dass Wien nichts sei. Dieses weltweite Wien. Und diese Witwe. Ewigalte Frau. Fast so alt wie ich, sagte sie. Und sie sei seine Mutter. Als könnte er das je vergessen. Das habe er jetzt davon. Und er, obwohl er ahnte, was käme, hatte gefragt, was sie meine.
Was habe er wovon?
Dr. Kindersäge , hatte sie gesagt. Dr. Kindersäge isch ausblieba. Odr?
Es klang, als spreche sie über ein zersägtes Kind. Und er dachte, dass seine alte Heimat nicht mehr so sei, wie sie ihm in Wien vorgekommen war.
Er habe doch einen Sohn, hatte er geantwortet.
Aber keinen, hatte sie gesagt, der mit seiner Mutter verwandt sei. Sie entfachte Feuer, stellte die Pfanne auf die Herdstelle. Wie lange er bleibe?
Er sei auf der Durchreise. Hatte er gelogen. Er müsse weiter, nach Straßburg. Ein wichtiger Patient.
Die Mutter war daraufhin stumm geworden. Wie die mit Mehl bestreuten Felchen und Kretzer auf dem Holzbrett neben der Pfanne. Wenigstens die Fische rochen wie früher. Und schmeckten wie früher. Welcher Donaufisch kann sich je mit Kretzern messen. Am nächsten Tag war er in seine Spur zurückgekehrt. Hatte sich nach Konstanz schiffen lassen und dort die Post bestiegen. Eindeutig eine Flucht, die ihn auf seinen Weg zurückbrachte. Aber dass er Richtung Karlsruhe floh, daran war allein die Anziehungskraft von Paris schuld.
Noch vor seiner Abreise aus Wien hatte er in Störcks Schriften geblättert. Die Stelle über den Schierling nachgelesen. Hatte bewundert, wie klar und vernünftig von Störck schreibt. Und sich ermahnt, selbst so klar zu schreiben. Zu übersetzen, was in den magnetischen Sitzungen geschieht. Mit ihm geschieht. Den Patienten geschieht. Was zwischen ihnen geschieht, sobald seine Hände die fremde Haut berühren und eine Schranke sich öffnet.
Die Schranke beschreiben. Den Fluss beschreiben. Das Fließen. Das Fluidum beschreiben. Diese innerste aller Substanzen beschreiben. Seine Eigenschaften. Unsichtbar, namenlos, kontinuierlich und höchst subtil.
Und Auge in Auge mit den fehlenden Wörtern – sich behelfen mit Wasserwörtern. Wörter wie für den Mühlbach geschrieben. Und. Den Mühlbach beschreiben. Das Stürzen und Tosen. Die Rinnsale, die kleinen Nebenflüsse, die plätschernd pulsieren, strömen, flirren, klopfen, tröpfeln, stocken und wieder stürzen.
Er muss eine Skala anlegen. Von tosend bis kaum wahrnehmbar. Eine Apparatur entwickeln. Eine Art Elektroskop. Allein nur für die Vis magnetica . Die feiner ist als ihre elektrische Schwester. Er muss eine Größe festlegen. Eine Maßeinheit. Aufschreiben, was geschieht, wenn die Patienten in diesen Schlaf fallen, den er den magnetischen
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