Am Anfang war die Nacht Musik
Frau. Die nur einem gehöre: ihm, Störck. Und kaum merkt er, dass Frau Wahrheit noch einem anderen einen freundlichen Blick gönnt, kreidet er es jenem an. Doch in Wahrheit nimmt es Frau Wahrheit nicht so genau mit der Wahrheit.
Der zweite Brief, weniger pedantisch geschrieben, klang versöhnlicher. Eine kurze, hingeschluderte Notiz. Der Hofsekretär gedenke sich mit seiner Familie ein paar Tage aufs Land zu begeben. Wolle deshalb seine sicher längst wiederhergestellte Tochter abholen. Wolle keine Minute Landluft versäumen. Die allen so gut täte. Ihm, der Gattin und dem Fräulein. Er komme also morgen – selbe Zeit. Falls es gewünscht sei, werde er das Mädchen auch wieder bringen. Im Übrigen freue er sich drauf, die Tochter zu sehen. Und, ob er es glaube oder nicht, auch den Doktor. Und verbleibe hochachtungsvoll. Die Sauklaue.
Später las er den Brief Maria vor. Sie lauschte schweigend. Weinte nicht, was ihn wunderte. Sie hatte zugehört und dann nichts gesagt. Auch er hatte geschwiegen, und es hatte gedauert, bis sie wissen wollte, was er diesmal unternehmen werde?
Diesmal, hatte er gesagt, sei nichts mehr zu machen.
Da war sie die Treppe zu ihrem Kämmerchen hinaufgestiegen. Behäbiger als üblich, darüber war er erschrocken. Wie eine Alte, hat er gedacht und beobachtet, wie der Hund sich an ihr vorbeidrängte, um sie oben wedelnd zu empfangen.
Und seine vielen Befürchtungen. Dass die anstehenden Veränderungen sich in Gestalt einer nervlich bedingten, somatischen Beeinträchtigung niederschlagen könnten. Zum Beispiel einer Lähmung der Glieder. Wovon ihr behäbiger Gang nur ein Anfang wäre. Er war ihr gefolgt. Hatte den Verdacht jedoch fallenlassen, als er sah, wie geschickt sie ihr Kleid zusammenfaltete. Und wie flink ihre Hände die Perücke und all die Accessoires ihres Haartheaters einsammelten. Die Vogelnester, die Eier, die Glöckchen, all die diversen Einzelheiten. Eins übers andre packte sie in ihren samtgefütterten Koffer. Ihre helle Stimme erzählte, dass sie sich für die im Rüssel unweigerlich auf sie zukommende nächste Perücke etwas Neues ausgedacht habe. Das Vogel-Thema sei ja längst passé , abgelutscht wie ein Daumen. Die nächste Haarinszenierung müsse etwas Neues darstellen: die magnetische Kraft. Sie werde sich kleine Magnete ins Haar binden lassen. Bernsteinperlen. Woll- und Seidenfäden. Und wie fände er den Titel: Das Fluidum der Welt? Seine Vorschläge seien nicht nur willkommen, sondern erwünscht. Dann verfiel sie in eine Art nüchternen Singsang, was alles sie vor ihrer Abreise noch zu erledigen habe. Noch einzupacken: die Naturaliensammlung. Samt aller in Mesmers Folianten frisch gepressten Schneeglöckchen- und Christrosen-Köpfchen. Etwa zehn Blütchen, alles in allem. Die Hina ningyo mit den Haaren wie Seide komme nicht in den Koffer. Die behalte sie auf der Fahrt in der Hand. Dann dieKreaturen, von denen sie Abschied zu nehmen habe, die Tauben und die medizinischen Würmer. Vom Klavier, das sie am liebsten mitnehmen wollte, und vom Hund (den sie ebenfalls am liebsten mitnehmen wollte). Von Riedinger. Und von Kaline. Und Anna und allen Fünfsinnigen im Haus. Und zuletzt von dem, der ihr so entsetzlich fehlen werde, dass sie sich noch nicht vorzustellen wage, was dieser Verlust in ihrer Seele anrichten werde … Der mit dem sechsten Sinn Begabte … Der sie schon einige Male gerettet habe, vor allem Möglichen. Der sie dieses Mal zum ersten Mal einfach im Stich ließe … Er, der Doktor. Sie hatte gequält gelächelt und sich die Augen gewischt.
Er habe alles versucht, hatte er geantwortet. Sein Bestes getan. Und der Vater werde sie wiederbringen …
Ob er glaube, was er dem Vater geglaubt habe.
Sie hatte keine Antwort abgewartet. War einfach zu ihrer Aufzählung zurückgekehrt. Was alles sie erwarte. Nach dem Wochenende auf dem Land. Wenn sie heimkomme. Heim in den Rüssel .
Ihre beiden lieben Klaviere. Die herrlichen Begrüßungen. Koz̧eluch, Salieri, Metastasio. Und gewiss werde sie bald den Herrn von Kempelen treffen. Und vielleicht mit dem berühmten Türken Schach spielen. Doch zuallererst werde sie Koz̧eluch ihre Sicilienne vorspielen. In einem solchen Tempo, dass dem Hören und Sehen vergehe. Und dann, sang sie, werde sie ihre Tournee vorbereiten. Eine große durch ganz Europa. Und mindestens so weit wie die Mi-ma-mozart’sche. Und wer weiß, vielleicht noch weiter. Bis nach Amerika … und so weiter. Zu all den Orten, die sie kenne. Weil ihre
Weitere Kostenlose Bücher