Am Anfang war die Nacht Musik
Finger die doch längst auf dem schwindeligen Globus gefunden hätten. Inzwischenwar ihr Koffer voll, und sie hatte sich auf den zugeklappten Deckel gesetzt, und er, er hatte den ledernen Gurt darumgeschlungen.
Er sieht die vor dem Haus versammelten Leute. Die sich zu einer wüsten Traube um den Eingang sammelten. Und wie der Kutscher ihnen entgegentrat. Verhandelte. Besänftigend die Arme hob. Den Kopf schüttelte. Und wie die Leute eine Front bildeten. Die das hilflose Kutscherlein ins Haus drängte. Der Gute, der jetzt nicht nur Kaline zu ersetzen versuchte, sondern auch noch Anna. Die so gut für Ordnung sorgen kann wie keiner. Wahrscheinlich ist sie zu einer Freundin geflohen. Oder sie legte bei Störck ein gutes Wort ein, für ihn, ihren Gatten. Und das gute Wort war nicht verhallt. Es war weitergetragen worden. Bis es in die richtigsten, wichtigsten Ohren gelangt war. So kam es, dass Anna ihn noch am Abend vor seiner Abreise mit einem Brief überraschte. Ein Empfehlungsschreiben des Staatskanzlers Fürst Kaunitz an den Gesandten des Kaiserreichs in Frankreich, Graf de Merci-Argentau. Für ihn, den Doktor. Dessen Abwesenheit mittlerweile vermutlich das Kutscherlein (vergeblich) zu ersetzen versucht.
Der mit einem Tuch seinen alten Koffer sauber gewischt und ihn von Spinnweben und Staub befreit hat. Eine Arbeit, die er früher Kaline überlassen hätte. Und wie er dann fünf Magnete von der Wand pflückte. Den herzförmigen. Den nierenförmigen. Den ovalen. Den runden. Und den stabförmigen. Nicht, dass die Gestalt von Bedeutung wäre. Daran glaubt er schon lange nicht mehr. Die magnetische Kraft hängt nicht von so etwas Offensichtlichem wie der äußeren Form ab. Werihm diesen Unfug unterstellt, hat ihn missverstanden. Nur, die Erfahrung zeigt: Die Leute reagieren heftiger auf ein Herz als auf einen unförmigen Klumpen. Sie wissen ja nicht, wie ein Herz aussieht. Sie haben ja nie eins gesehen.
Er hatte die Figuren in blaue Futterale gepackt. Und sie in den nach Keller riechenden Koffer gelegt. Eine Schicht Filztuch darüber. Eine Schicht Bücher. Eine Schicht Kleider. Den violetten Anzug. Den grauen. Eine Schicht Instrumente. Das Mikroskop. Die Elektrisiermaschine. Wie er sie in ihre Teile zerlegte. Dann entschied er, dass sie bleiben müsse. Die Gläsermaschine dagegen, mit den einzeln so zerbrechlichen Schälchen. Vernünftig wäre gewesen, ohne sie zu reisen. Aber ohne Glasharmonika, wie soll das gehen? Sie musste mit. Und wenn er sie eigenhändig durch die Gegend schleppte. Es gibt Dinge, ohne die kann er nicht sein.
Dabei hatte er immer gedacht, Anna sei es, die an den Dingen klebe. An den Dingen, die etwas kosten. Er hat ihr oft genug Verschwendung vorgehalten. Wenn sie mal wieder mit vollen Taschen aus Wien heimkehrte. Und der Kutscher mindestens achtmal laufen musste, bis all die Einkäufe im Entree standen. Aber als er an jenem Tag gewagt hatte, anzudeuten, dass sie es mit den Einkäufen nicht übertreiben solle, war sie explodiert.
Du, schrie sie, du klebst an den Wörtern. Und vor allem an denen, die du nicht hast. Das sei auch nicht besser!
Aber billiger, hatte er gesagt und hatte sie bei ihrem Kram stehen lassen. Und hörte, wie sie weiterschrie, hinter ihm her, ob er nicht wisse, dass Wörter das Teuerste überhaupt seien. Verwahrt und gehütet von den Gelehrten der Welt. Zu dieserWelt der Wörter habe sie doch gar keinen Zutritt. Und er, habe sie gehofft, werde ihr den verschaffen. Aber daran sei ihm ja gar nicht gelegen. Er habe doch überhaupt kein Interesse daran, seine Rätsel mit ihr zu teilen.
Warum sie das sage, hatte er ganz ruhig gefragt. Wie sie drauf komme?
Weil er sie, schrie sie, doch heimlich für unheimlich hielte. Der Einzige, der sie je für bare Münze genommen habe, der Einzige, der je etwas für sie getan habe, sei der Proviantamtsobristleutant gewesen …
Er wäre dieser Streitfrage um sie und ihn und die Sprache gern nachgegangen. Hätte zu gern alle Vorwürfe ausgeräumt. Aber wenn Anna vom ersten Ehemann anfing, erstummte er doppelt. Seine Antwort: Gegen eine Nummer eins käme eine Nummer zwei nie an. So viel Mathematik-Verständnis besitze auch sie. Er war aus dem Zimmer gestürmt und hatte sich den ganzen Tag nicht mehr hingesetzt. Erst am nächsten wieder. Und am überübernächsten. In der Postkutsche.
Und jetzt, hier, in seinem kleinen wasserumspülten Zimmer, seiner trockenen Zelle. Fällt ihm Baron von Störck ein, der ihm das Wort Scharlatan zugewiesen
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