Am Anfang war die Nacht Musik
Liebesgedicht. Oder zwei. Brav durchgereimte Langeweile. Sie habe ausrichten lassen, sie werde Gedichte nur nochakzeptieren, gekleidet in Physik oder Metaphysik. Wissenschaft sei en vogue und alles andere schlaffer Schnee von gestern.
Langeweile, das klang ganz nach Kornmann.
Aber Gedichte? Nein. Offenbar gab es einige bedauerliche Guillaumes in Paris. Er ließ sich von dem abrupt einsetzenden, synchronen Kichern der beiden anstecken. Ein ähnlich verwegenes Kichern kennt er von Maria. Wenn sie über etwas lachen will, worüber man nicht lachen darf. Weil es nicht lustig ist, sondern zum Heulen. Vielleicht sitzt sie im Palais Royal und kichert vor sich hin. Denkt an ihn, ihren alten, anrüchigen Mesmer.
Er tritt rückwärts ins Haus zurück, schließt sorgsam die Tür. Er wird die Runde auflösen. Alle werden erschrocken auf ihn schauen.
Dass er ins Zimmer kommt, heißt, dass er weg war.
Wo war er denn?
Er antwortet nicht.
Und wie lange?
Ein Konzert lang würde er gern antworten. Aber er antwortet nicht. Er ist für die Stille. Das heißt, er wird nicht zum Konzert gehen. Auf keinen Fall.
Achtzehntes Kapitel
16. April 1784
Sie dreht, läuft über den Platz. Eine Prinzessin im dunkelroten Kleid, die ihre Schritte zählt. Zwanzig bis zu den Stufen, die hinaufführen zum Palast der Tuilerien. Drinnen wartet man auf sie.
Um sie zu feiern. Die blinde Klavieristin. Allen voran ihre Mutter. Der die Tournee wichtige Aufgaben beschert hat. Sie ist Berichterstatterin (zur Zeit aus Paris), ist Marias Auge (Vor uns die Bildsäule Ludwigs XIV., der Genius des Sieges hält die Lorbeerkrone über sein Haupt). Sie ist kritische Hörerin (Koz̧eluch, fehlerfrei. Und mit Gefühl gespielt. Kleines Bravo), Marias Aufpasserin (Riedinger!) sowie Abwenderin schlimmer Gefahren wie Zugluft und spitze Steine, auch fallende Steine, direkte Sonneneinstrahlung, junge Männer, alte Männer und: Mesmer!
Aber dass er zum Konzert kam, hat sie nicht verhindern können. Sie war sicher, dass er kommen würde. Auftauchen wie aus dem Nichts.
Als sie in der zweiten Pause aus dem jubelnden Saal in die kühle Garderobe trat, atmete jemand im Raum, der da vorher nicht geatmet hatte. Mesmer. So ist er.
Nein so etwas! Damit habe sie jetzt nicht gerechnet!
Sie gab sich überrascht. So ist sie. Log. Ihm zuliebe. Auch wenn sie Lügen so wenig leiden kann wie er. So wenig, wie manche die Wahrheit leiden können. Oder Überraschungen.Oder überraschende Wahrheiten. All das, was sie und der Doktor für unverzichtbar halten. Mit dem einzigen Unterschied, dass er eindeutig lieber andere überrascht. Während sie beides gern ist, Überraschte wie Überraschung, am liebsten beides zugleich. Hauptsache, etwas spielt sich ab in ihrer Gegenwart. Etwas Erstaunliches. In dem Lebendiges zuckt. Ein zum Himmel steigender Montgolfier oder auch ein tief empfundener Haydn, eine feuchte Hundeschnauze oder eine warme, weiche Hand.
Sie war auch diesmal verblüfft, als sie Mesmer die Hand gab. Der elastische Händedruck fasste ihre Rechte, als fasse er Maria mit allem Drum und Dran. Und sie könne sich ganz hineinschmiegen, wie in ein bequem gepolstertes Nest.
Als Nächstes hatte Maria ihm ihr neues Stammbuch samt Feder hingeschoben, damit er sich eintrage. Und sie hatte ihn gebeten, vorzulesen, was er geschrieben hat. Das war ein Fehler gewesen. Denn er hatte sie sofort gebeten, die Augen zu öffnen. Warum sie eigentlich andauernd die Augen geschlossen habe.
Aus Gewohnheit, sagte sie.
Aber die Leute müssten sie doch für blind halten.
Ach, die Leute.
Man gibt ihnen, was sie haben wollen, damit man am Ende bekommt, was man will.
Das hielt er für falsch. Man gibt, was man hat.
Er vielleicht. Er gebe den Leuten, was er habe, und keiner wisse, was es sei.
Falsch, sagte er. Seine Patienten nähmen an, was er ihnen gebe. Sie solle sich erinnern.
Klar. Nur hinterher wissen sie nicht, was sie bekommen haben. Lasse sich ja auch nicht so genau messen, fügte sie hinzu.
Doch, hatte er behauptet. Es sei ganz einfach. Die Wahrheit.
Und sie könne sehen.
Hm-hm, sagte sie.
So ist sie. Lügt, ihm zuliebe.
Sie habe es ja schon bewiesen, sagte er.
Ihr sei die Welt manchmal klar und sanft vor Augen, und dann tauche sie wieder ab …
Sie oder die Welt?, unterbrach er.
Was weiß ich, gab sie kontra. Fest steht, dass nichts feststeht. Und die Welt jederzeit und ohne jede Vorwarnung verschwinde. Und dass das Abtauchen und Wiederauftauchen der Welt sie beim Spielen
Weitere Kostenlose Bücher