Am Anfang war die Nacht Musik
Turmkopf, murmelt,
Ührchen, Ührchen, geh geschwind
Mach, dass bald der Sand verrinnt
Lass den Sand verrinnen,
Lass ein Uhr beginnen
Ührchen, Ührchen, geh geschwind.
Ja, Resi, jetzt überraschst du mich. Das ist neu. Das habe er nie zuvor gehört. Am Schluss habe sie es selbst gedichtet. Bei Resis Begabung wisse man
nie so genau, sagt der Vater. Nur eins sehe man ganz deutlich: dass man nicht für alles Augen brauche. Denken und sprechen kann sie auch ohne. Und Klavier
spielen sowieso. Und dass man manches ohne Augen besser sehen könne, das habe ihn seine Tochter gelehrt. Sag uns doch, Resi, wie der Falke aus der Fabel
von Gellert aussieht.
Er ist blau. Und an den Augen hat er gelbe Punkte …
Falsch …, sagt die Mutter. Das ist …
Das ist der Papagei, sagt der Vater.
Der Falke, du weißt doch, der aus …
Lass sie in Frieden, sagt der Vater. Schon gut, Resi.
Unter den Lidern sieht er ihre Augen kreisen wie zwei Vögelchen, kurz vor dem Schlüpfen.
Ich glaube, das Kind hat genug, sagt der Vater. Sie sollte schlafen.
Ob ihr jene Nacht noch wach sei in der Erinnerung?, wendet sich Mesmer direkt an sie.
Sie kennt die Geschichte, sagt der Vater, aber sie erinnert nichts.
Ach ja?, sagt Mesmer. Sie erinnern überhaupt nichts?
Nein, sagt der Vater.
Was ist denn das Früheste, an das Sie sich erinnern, Fräulein?
Es gibt nichts Frühestes, sagt der Vater, Gott sei Dank nicht. Jetzt erinnert sie das Gute, nicht, Resi? Weißt du noch, wie du der Kaiserin vorgespielt
hast?
Die geschlossenen Augen der Tochter wenden sich der Mutter zu. Die hellen Glöckchen ihrer Haarpracht begleiten jede Bewegung. Mesmer horcht auf.
Na, sag uns, was hat die Kaiserin gerufen?, will die Mutter wissen.
Das Mädchen nickt heftig.
Ja. Bravo. Bravo hat sie gerufen, antwortet der Hofsekretär seiner Frau.
Und dann, sagt Mesmer, was kam dann?
Das Mädchen klatscht in die Hände.
Jawohl, sagt der Vater. Die Gnadenpension!
Und dann?, sagt Mesmer.
Das war’s, sagt der Vater.
Ob er das von ihr hören könne, sagt Mesmer.
Die Mutter lacht auf. Der Hofsekretär legt einen Finger auf die Lippen. Alle warten.
Das Mädchengesicht zuckt, sachte erst, wie ein Gewitter hinter den Wimpern. Dann öffnen sich langsam die Augen.
Sie werden weit, quellen hervor. Die Pupillen springen unkontrolliert, wie Bälle Stufen hinabspringen. Oder wie zu kleine Schiffe auf zu großen Wellen, oder wie Fische nach Stäubchen, die sie für Mücken halten, oder wie die ersten Fliegen im Frühjahr um getrocknete Blumensträuße. Alles, was gerade noch tot und leblos war, gerät in Aufruhr, zuckt, vibriert nach einem eigenen, vom Ganzen unabhängigen System. Chaotisch und unkoordiniert wie ein irre gewordener Automat.
Augen zu!, schreit der Vater.
Das Mädchen gehorcht. Sie erlischt.
Wie das aussieht. Der Vater versucht Fassung zu bewahren.
Nur gut, sagt die Mutter ruhig, dass der Arzt es sieht.
Resi, du brauchst nicht zu sprechen, sagt der Vater. Sie solle dem Doktor lieber vorspielen. Was wirst du uns spielen, Resi?
Das Mädchen steht auf, findet den Weg zum Klavier und ihr Rücken streckt sich. Und wie mühelos sie spricht. Ich spiele ein Stück von meinem Lehrer. Meinem verehrten Meister Koz̧eluch. Ein kleines Stück, von ihm selbst komponiert.
Sie hebt die Hände, die sich in der Luft verwandeln, weiche Wolken werden, die sich federleicht auf die Tasten schmiegen.
Schon bei den ersten Tönen atmet Mesmer tief durch.
Bravo, ruft er, als sie endet. Ob sie auch etwas von Gluck könne.
Das Mädchen schüttelt den Kopf.
Gluck nein, sagt der Vater. Salieri. Aber das sei jetzt genug. Ob Mesmer helfen könne.
Die Augen werde er bändigen, sagt Mesmer. Beruhigen und in ihre Höhlen zurückführen.
Klingt gut für den Anfang, sagt der Vater. Im Übrigen solle es sich auch für Mesmer lohnen.
Mesmer sieht ihn fragend an.
Na ja, sagt der Vater leiser. Diese Nähe zu ganz oben … der Fall könnte die Kaiserin möglicherweise durchaus interessieren … wenn sie davon erführe … da könnte man möglicherweise nachhelfen … Ob er verstehe …
Ja.
Und wie es dann mit den Augen weitergehe?
Spekulieren sei nicht seine Sache, sagt Mesmer. Statt großer Versprechungen wolle er lieber gleich anfangen. Theorie sei wichtig, aber Veränderungen fänden da nicht statt. Die Praxis zeige, wie viel eine Theorie wert sei. Nicht umgekehrt.
Er bitte die Eltern, jetzt den Raum zu verlassen. Er brauche Zeit mit der Patientin.
Allein?, sagt die
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