Am Ende der Straße
Orgasmus brachte. Ich kannte ihr Lieblingsessen, ihre Lieblingsdüfte und die Liste ihrer Würde-ich-hören-wollen-wenn-ich-auf-einer-einsamen-Insel-festsitze-Songs. Ich wusste, wie sie sich die kleine halbmondförmige Narbe am Knie zugezogen hatte, nämlich beim Fangenspielen in der vierten Klasse, als sie im Kies hingefallen war. Ihre anderen Narben kannte ich ebenfalls – jene, die dem Rest der Welt verborgen blieben. Ich wusste, wo sie waren und was sie verursacht hatte. Ich wusste, was sie ängstigte. Welche Monster ihr
Unterbewusstsein sie sehen ließ, wenn sie abends die Augen schloss. Ich wusste, welche Geister sie verfolgten. Ich erkannte es, wenn sie sauer, müde oder zickig war, wenn sie ihre Periode hatte oder mit Depressionen oder Selbstzweifeln kämpfte. Und ich wusste es, wenn sie versuchte, solche Dinge vor mir zu verbergen. Ich wusste, wann sie eine Dröhnung brauchte. Aber vor allem wusste ich, wann sie mich belog.
Und genau das tat sie in diesem Moment.
Lügen.
Die Frage war nur, warum? Ich glaubte die Antwort darauf ebenfalls zu wissen, aber ich wollte es von ihr hören.
»Christy.« Ich bemühte mich, leise und ruhig zu sprechen. Das war nicht einfach. Eigentlich wollte ich mit der Taschenlampe aus ihr rausprügeln, warum sie mir etwas vorspielte. Dieser Drang war beinahe überwältigend. Ich konnte es vor meinem inneren Auge sehen wie einen Kurzfilm. Eine Vision.
Und plötzlich wusste ich, wo diese Vision herkam. Die Dunkelheit. Zum ersten Mal, seit wir hierhergekommen waren, wurde ich mir der Dunkelheit in meinem Kopf bewusst. Ihre physische Form war vielleicht noch da draußen hinter Dez’ Siegeln, doch ein Teil von ihr – irgendeine psychische Manifestation – war in mir. Ich konnte sie regelrecht spüren; winzige, unsichtbare Finger, die an meinem Gehirn rumdrückten. Körperlose Anhängsel, die nach einem Eingang forschten. Die nach Emotionen suchten, um sie in Waffen zu verwandeln. Die mich dazu bringen wollten, durchzudrehen und zu töten, damit es anschließend einen Menschen weniger in
Walden gäbe. Das Gefühl war ekelerregend. Mein Magen hob sich. Galle stieg in meine Kehle. Ich schaffte es gerade noch, nicht zu kotzen, holte tief Luft und versuchte, weiterzusprechen.
»Christy, Süße. Was hast du hier hinten gemacht? Und bitte lüg mich nicht an, okay? Was auch immer du getan hast, es ist in Ordnung. Ich komme damit klar. Ich muss nur wissen, was hier los ist.«
»Ich habe es dir doch gesagt, Robbie. Ich musste auf die Toilette und …«
Die Dunkelheit versetzte mir einen Stoß.
»Verdammt, Christy, ich habe dir doch gesagt, du sollst mich nicht verarschen! Meinst du, ich bin blöd, oder was? Du warst nicht hier hinten, um zu pinkeln. Ich habe dich gehört, als ich reingekommen bin. Du hast nach etwas gesucht. Und jetzt sag mir gefälligst, was das ist.«
Sie ballte die Hände zu Fäusten, doch ihre Schultern sackten herab, und sie starrte auf den Boden. Als sie mir antwortete, war ihre Stimme ganz leise, und sie klang resigniert.
»Brandons Stoff. Ich habe nach Brandons geheimem Stoffvorrat gesucht. Er hat ihn immer hier hinten aufbewahrt. «
»Und woher weißt du das?«
Sie seufzte, weigerte sich aber, mir in die Augen zu sehen.
»Weil er mir manchmal etwas besorgt hat. Ich bin in der Mittagspause oder auf dem Heimweg von der Arbeit ab und zu hier vorbeigekommen, und dann hat er mir etwas verkauft.«
Die Dunkelheit drängte mich weiter. Ich spürte, wie sie sich in mir ausbreitete und mein Gehirn einhüllte. Und ich musste zugeben – dieses Gefühl gefiel mir. Es hatte fast schon etwas… Erotisches an sich. Ich weiß, das klingt total irre, aber es ist wahr. Was auch immer die Dunkelheit mit mir anstellte, es hatte definitiv etwas unterschwellig Erotisches an sich. Und je wütender ich wurde, desto besser fühlte es sich an.
»Dann hast du also nach Drogen gesucht?«
»Ja«, gab Christy zu, »nach Gras.«
»All das für ein bisschen beschissenes Gras. Hast du eigentlich eine Ahnung, wie dämlich das war? Auch nur einen kleinen Schimmer? Ich meine, verdammt nochmal, du weißt doch, was auf den Straßen los ist. Du hast gesehen, was die Dunkelheit mit den Leuten macht.«
»Es ist immer noch Walden. Es ist immer noch unsere Heimat.«
»Es ist ein verdammter Sumpf, Christy! Du hättest verletzt werden können. Verdammt, du hättest sogar getötet werden können! Wir hätten alle getötet werden können. Russ, Cranston. Was hast du dir verdammt nochmal dabei
Weitere Kostenlose Bücher