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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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und das war nur der Anfang. Genau wie pensionierte Buschpiloten können auch professionelle Holzfäller lange Listen mit den Namen toter und verkrüppelter Kameraden herunterrattern wie sonst nur Soldaten nach dem Kriegseinsatz. Tingleys Freund Vaillancourt wurde von einem durch die Luft schnellenden Seil skalpiert; ein anderer, Judd McMann, wurde durch eine Kantenschleifmaschine gezogen. »Mighty« Joe Young brach sich das Rückgrat, als er von einem Holz schlepper geworfen wurde, nachdem er beim Schleppen an einem Berghang die Kontrolle verloren hatte. Carl Larsen traf ein Seil so hart, dass ihm durch den Aufprall die Aorta aus dem Herzen gerissen wurde; ein anderer Schwede, so erinnerte sich Tingley, wurde von einem zurückschlagenden Baum erwischt, vor dem er davonzulaufen versuchte. Und noch ein anderer schaffte es sicher zurück nach Vancouver, nur um dann sein Leben zu lassen, als er aus einer Bar in der Granville Street trat und von der Kugel eines wahllos durch die Gegend schießenden Besoffenen in den Kopf getroffen wurde. Über Jahre veröffentlichte der News Herald von Vancouver in einem Kasten die Todesfälle bei Holzfällern, genau wie die New York Times es im Krieg für amerikanische Soldaten zu tun pflegte.
    Tingley, der auf den Queen Charlottes Fichten bis zu einem Durchmesser von fünf Metern gefällt hat, konnte anscheinend dank viel Glück und seiner katzenartigen Reflexe überleben (ein anderer Halbbruder hat drei Runden gegen Jack Dempsey durchgestanden), aber auch purer Optimismus mag eine Rolle gespielt haben. Einen Vorfall, bei dem er in einen flachen Graben tauchte, um die Wucht eines unkontrolliert fallenden Baumstamms abzuschwächen, beschrieb er mit den Worten: »Wissen Sie, man wird tatsächlich ein wenig zusammengepresst, wenn so ein Stamm einen überrollt.« Manchmal jedoch war Tingley schneller, als ihm guttat. So machte er einmal während einer Sauftour den Fehler, einen kräftigen Italiener namens Furdano zu beleidigen. Der Mann nahm ihm das übel, schlug ihn zu Boden und trat auf seinen Kopf ein, und wäre nicht ein anderer Holzfäller namens Bear eingeschritten, hätte Furdano sein Werk vermutlich zu Ende gebracht; Tingley wurde bewusstlos zu seiner Schlafbaracke getragen und aufs Bett gelegt, wo ihn am nächsten Morgen sein Kolonnenführer, der Antreiber, weckte, um ihn zu feuern. Tingley konnte nur die Stimme des Mannes wahrnehmen, da er blind war, weil der Italiener so hart auf ihn eingeschlagen hatte, dass sich seine Augen mit Blut gefüllt hatten. Als der Antreiber Tingleys Gesicht sah, verschlug es ihm den Atem, und er stürzte aus dem Raum; Tingley hörte ihn draußen im Gang zum Sanitäter sagen: »Seine Augen sind weg; er hat die Augen verloren.«
    Tingley erholte sich, aber solchen Schlägereien ist der Ausdruck »Holzfällerpocken« zu verdanken, mit dem die Narben bezeichnet werden, die von Tritten mit den als calk boots bezeichneten Holzfällerstiefeln zurückbleiben. Ausgesprochen wurde der Name dieser Schuhe wie corks , und sie ähneln Golfschuhen mit hohem Schaft: Ihre Sohlen haben gut sieben Zentimeter hohe Absätze und sind mit Spikes von mehr als einem Zentimeter Durchmesser ausgestattet; als Obermaterial dient schweres Leder, sie werden bis zur Wade, einige bis zum Knie geschnürt. In einem Wald mit glitschigem Holz und losem moosbedecktem Geröll sind sie genauso unersetzlich wie Steigeisen für Alpinisten.
    Hin und wieder verschluckt der Wald Männer mit Haut und Haaren. In den frühen 1960ern kam es in einem Camp außerhalb von Jeune Landing auf Vancouver Island zu einem solchen Vorfall, als eine Crew einen Windbruch, ein vom Sturm lädiertes Waldstück, aufräumte. Viele Bäume waren samt Wurzeln aus dem Boden gerissen worden, und die Männer sägten die umgefallenen Stämme am Fuß ab, sodass nur noch Stumpf und Wurzelteller – einige mit einem Durchmesser von sechs Metern – auf der Seite liegend übrig blieben. Als die Mannschaft nach der Mittagspause ihre Arbeit wieder aufnehmen wollte, fehlten zwei Männer. Herbeigerufene Suchtrupps hatten keinen Erfolg; es war, als wären die Männer vom Erdboden verschluckt worden. Erst als alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft waren, kam jemand auf die Idee, unter den Stümpfen zu suchen, und dort wurden die beiden vermissten Männer tatsächlich gefunden. Sie hatten den Fehler gemacht, einen der auf der Seite liegenden Wurzelteller als Rückenlehne zu nutzen. Während sie aßen, hatte sich der vom Stamm

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