Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
London, der sie dem Insektenkundler William Wilson Saunders verkauft. Der präsentiert sie schon im Mai 1859 anlässlich einer Zusammenkunft der Entomologischen Gesellschaft unter dem neuen Gattungsnamen Elaphomyia. Doch offiziell und in einer gedruckten Publikation wird Saunders diesen Namen erst nach erheblicher Verzögerung (wir wissen nicht, warum) im November 1861 einführen. Den Ruhm des ersten wissenschaftlichen Beschreibers, gleichsam der Ritterschlag des Systematikers, heimst indes ein anderer ein. Saunders und seine Benennung werden Opfer der unerbittlichen Regeln zoologischer Nomenklatur. Die bestimmen, quasijuristisch relevant, dass derjenige Name einer Art oder Gattung verbindlich gilt, der als Erster in einer Publikation veröffentlicht ist.
Was Saunders nicht weiß: Adolf Gerstäcker, Kurator für Fliegen und andere Insekten am Museum für Naturkunde in Berlin, hat kurz zuvor für ebenjene Geweihfliegen aus Neuguinea einen eigenen Namen vorgeschlagen: Phytalmia. Auch Gerstäcker hat Geweihfliegen ausgerechnet aus Dorey erhalten; darunter sogar solche, die nachweislich von Wallace selbst dort im Frühjahr 1858 genadelt wurden. Auf welch verschlungenen Pfaden diese Fliegen just zur gleichen Zeit auch zu Gerstäcker nach Berlin gelangen, ist eine der spannenden Detektivgeschichten in der Zoologie, die aber zu verschlungen ist, als dass wir sie hier berichten können. Uns soll hier genügen zu wissen, dass Gerstäcker durchaus von Wallace’ Fliegen für Saunders wusste, und auch, dass dieser sie bereits öffentlich als eine neue, bislang unbekannte Gattung in London angekündigt hat. Doch mit den höchst kuriosen Fliegen in den Händen lässt er sich auf einen Wettlauf mit dem ahnungslosen Saunders ein.
Um diesem zuvorzukommen, schustert Gerstäcker in kürzester Zeit Zeichnung und beschreibenden Text für seine Geweihfliegen zusammen. Bereits im Juni 1860 veröffentlicht er in der »Stettiner Entomologischen Zeitung«, zusammen mit anderen für die Wissenschaft neuen Namen, auch die für zwei Geweihfliegen aus Neuguinea. Weil er schneller ist, heißen diese fortan Phytalmia cervicornis und Phytalmia megalotis (gemeinerweise nutzt Gerstäcker sogar für eine Art jenen lateinischen Namen, den auch Saunders bereits vorgeschlagen hat). Mag es aus moralischen Gründen vielleicht sogar berechtigt erscheinen, wenn Saunders, Wallace und übrigens später auch Darwin Gerstäckers Namen nicht zur Kenntnis nehmen und die Tiere weiter als Elaphomyia bezeichnen; die zoologischen Regeln lassen nicht nur in diesem Fall keinerlei Spielraum: Wallace’ Geweihfliegen heißen korrekt Phytalmia – nicht mit dem Namen dessen, der sie als Erster erkennt und benennt, sondern nach dem, der sie als Erster verbindlich in einer Veröffentlichung beschreibt. So werden kleine bizarre Geweihfliegen vom Ende des Archipels zum Symbol für den Ausgang auch von Wallace’ Wettlauf mit Darwin um die Entdeckung der Evolutionstheorie. Den Ruhm der guten Tat heimst oft ein anderer ein; am Ende zählt, was man erzählt.
Darwin in Downe – im Juni 1858: Mit zitternden Händen liest Darwin das Manuskript, das in ihm eine Mischung aus Erstaunen und schierer Verzweiflung auslöst. »Das Leben wilder Tiere ist ein Kampf ums Dasein. Die volle Anspannung aller ihrer Fähigkeiten und aller ihrer Kräfte ist erforderlich, um für ihre eigene Fortdauer einzustehen und für diejenige ihrer jugendlichen Abkömmlinge Sorge zu tragen.« Rasch blättert Darwin weiter, sucht nach dem Schluss. »Wir glauben jetzt gezeigt zu haben, dass es in der Natur eine Tendenz gibt, derzufolge bestimmte Gruppen von Varietäten sich Schritt für Schritt vom Originaltypus ausgehend weiterentwickeln. Wobei wir dieses mögliche Fortschreiten durch keinerlei Begrenzungen eingeschränkt sehen.« Nochmals springt Darwin wenige Zeilen weiter. »Diese Weiterentwicklung vollzieht sich in kleinen, ungerichteten Schritten.«
Einfach unglaublich! Wallace schreibt nicht nur, dass Arten veränderlich sind; gut, das meinen inzwischen viele erkannt zu haben. Doch sie stammen voneinander an, sie spalten sich auf und entwickeln sich allmählich. Nichts wirklich Neues, das hat Darwin bereits in dem Aufsatz von Wallace aus Sarawak gelesen. Jetzt aber erkennt Darwin mit einem Anflug von Panik, was Wallace mit seinem generellen Prinzip meint; dieser hat die Auslese in der Natur als die treibende Kraft bei der Entstehung der Arten erkannt. Auch wenn Wallace diesen natürlichen Prozess in
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