Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
sich jetzt befreien muss. Nur wie?
In seiner Verzweiflung wendet sich Darwin in jenem ersten Brief an seinen väterlichen Freund. Trotz seiner Aufgewühltheit teilt er Lyell in typisch britischem understatement mit, Wallace’ Manuskript sei es sicherlich wert, gelesen zu werden, und er werde umgehend anbieten, es an eine Zeitschrift zu kommunizieren. Allerdings, so gibt er Lyell zu bedenken, »ist dann all meine Originalität, was immer sie auch wert war, zunichte«. Darwin ist hin- und hergerissen; ringt offenbar lange mit sich. In solchen Dingen, überlegt er, ist der erste Eindruck im Allgemeinen richtig; und zuerst dachte er sicherlich, es sei unehrenhaft von ihm, jetzt auch seine Theorie zu veröffentlichen. Darwin versucht sich in Wallace zu versetzen, denkt in Rollen. Wallace könne sagen, Darwin habe nicht vorgehabt, eine kurze Zusammenfassung seiner Ansichten zu veröffentlichen, bis er seine Mitteilung bekommen habe. Ist es also fair, einen Vorteil daraus zu ziehen, dass Wallace ihm freimütig, wenn auch ungefragt, seine Gedanken mitgeteilt hat und Darwin es so nun verhindert, dass er, Wallace, ihm zuvorkommt?
Tage vergehen, quälende Tage; doch von Lyell erhält er keine Antwort. So schreibt er erneut eine Woche später, am 25. Juni 1858: »Mein lieber Lyell, es tut mir sehr, sehr leid, Sie mit dieser lediglich persönlichen Angelegenheit zu belästigen, so beschäftigt wie Sie sind.« Doch diese Sache mit Wallace lasse ihm keine Ruhe. Und er fragt geradeheraus, ob er jetzt noch veröffentlichen könne. »Eher würde ich mein ganzes Buch verbrennen, als dass Wallace oder irgend jemand denken sollte, ich hätte mich irgendwie unredlich benommen.« In einem Postskriptum fügt er hinzu, er werde Lyell oder Hooker in dieser Angelegenheit nicht mehr behelligen. Allerdings schreibt er dann auch an seinen Freund, den Botaniker Joseph Dalton Hooker. Der findet schließlich gemeinsam mit Lyell eine Lösung, um Darwin nicht um die Anerkennung seiner jahrzehntelang und mit ungeheurer Akribie betriebenen Arbeit zu bringen. Hooker und Lyell treffen ein, wie viele finden, höchst »delikates Arrangement«, das noch anderthalb Jahrhunderte später Anlass zu Legenden wie zum Historikerstreit gibt.
Konkurrenz von der »Etna« – Dorey, im Juni 1858: Die Einheimischen bringen ihm nur selten etwas. »Es sind arme Geschöpfe und sie schießen nur ausnahmsweise einen Vogel, ein Schwein oder ein Känguru oder selbst den schwerfälligen, opossumartigen Kuskus. Die Baumkängurus kommen hier vor, aber müssen sehr spärlich sein, da meine Jäger, obgleich sie täglich im Walde sind, niemals eines sahen.« Wallace kann nicht mehr laufen. Bereits kurz nach seiner Ankunft hat er sich beim Insektenfang im Unterholz am Knöchel verletzt und ist, nachdem sich die Wunde im Tropenklima entzündet, wochenlang beinahe gehunfähig. Da ist er fast ans Ende der Welt gesegelt, um die überreiche Fauna der von Europäern bislang höchst selten besuchten Tropeninsel zu erkunden, einzufangen und ins Mutterland des britischen Königreichs zurückzubringen – und nun findet er sich zur Tatenlosigkeit in einer kleinen Hütte verdammt, wissend, dass er in seinem Leben kaum noch einmal in diese Region kommen wird; in »ein Land, welches fremdartigere, neuere und schönere Naturgegenstände als irgendein anderes auf dem Erdenrund enthält. Der Naturforscher wird imstande sein, meine Empfindungen zu verstehen, der ich von morgens bis abends in meiner kleinen Hütte sitzen musste, unfähig ohne eine Krücke mich vorwärts zu bewegen.« Draußen taumeln Schmetterlinge vorbei, rufen unbekannte Vögel im Wald.
Es ist definitiv der falsche Ort und der falsche Zeitpunkt, um fußkrank herumzuliegen. Doch es kommt noch schlimmer. Anfangs findet Wallace noch Trost in den Vögeln und Insekten, die Ali und andere Helfer für ihn einsammeln, »aber natürlich nicht den vierten Teil von dem, was ich erhalten würde«. Nicht nur, dass dann einige seiner Leute krank werden. Plötzlich taucht das Schiff einer holländischen Expedition in der Bucht von Dorey auf und geht wochenlang vor Anker – ausgerechnet hier und ausgerechnet jetzt; das hat ihm gerade noch gefehlt. Diese Holländer sind lästig, denkt Wallace beinahe jedes Mal, wenn er auf sie oder ihre Spuren trifft. »In der Zeit habe ich beinahe nichts an Naturalien bekommen«, schreibt Wallace in einem Brief an seinen Agenten Stevens. »Jeder Vogel, Insekt oder anderes Tier, das es in Dorey zu bekommen gab
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