Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
Veröffentlichung gab, wird dieser fortan stets in Darwins Schatten stehen – nicht ohne eigenes Zutun. Wallace glaubte sogar, zu viel des Lobes für seinen bloßen Rohentwurf einer Evolutionstheorie erhalten zu haben. »Was die Theorie der natürlichen Selektion selbst betrifft, so werde ich stets behaupten, dass sie tatsächlich Ihre und allein Ihre ist«, schreibt er 1864 in einem Brief an Darwin. »Sie haben sie in derart vielen Details ausgearbeitet, die ich niemals bedacht hatte, und zwar Jahre bevor ich auch nur den ersten Lichtstrahl auf diesen Gegenstand fallen sah. Mein Aufsatz hätte niemanden überzeugt oder wäre nur mehr als eine geistreiche Spekulation wahrgenommen worden, während Ihr Buch die Naturforschung revolutioniert hat.«
Fazit: Rauchende Colts und Leichen im Keller?: Heutige Forscher wissen, dass ihr Streben, als Erster eine Entdeckung zu machen, nicht selten vom sportlichen Wettstreit zum Krieg um Priorität wird; und dass dabei gelegentlich auch ein kriminelles Niveau erreicht werden kann. Und nicht nur nach heutiger Sichtweise verstößt jenes heikle Arrangement einer gemeinsamen Verlesung von Wallace’ Aufsatz mit Auszügen aus Darwins Essays gegen gute wissenschaftliche Praxis. Es war eine Manipulation, wenigstens was die Art und Weise betrifft, wie die Texte der beiden arrangiert und später herausgegeben werden. Dass dieser Verstoß mit dem Hinweis auf die enorme Tragweite einer damals ebenso revolutionären wie ketzerischen Transmutationstheorie gleichsam nachträglich gerechtfertigt werden kann, ist mehr als fragwürdig.
Selbst wenn Darwin nicht direkt profitiert hat und bei Wallace nichts fand, was er nicht schon längst wusste, so bleibt unbestritten, dass er dank der ebenso knappen wie klaren Darstellung durch Wallace seine Theorie und Idee an entscheidender Stelle noch verbessert darstellen kann. Dazu dient sicher der Einschub, in dem er das Prinzip der Divergenz präzisiert. Vielleicht rührt daher jenes Gefühl der Schuld, das er Wallace gegenüber nachweislich empfindet und das erst dieser von ihm nimmt, als er nachträglich die Ereignisse billigt. Erst dann fühlt sich Darwin wie von einer Last befreit; er wird Wallace großmütig und edel nennen – zweifelsohne ein Lob, das dieser vollauf verdient. Doch wie konnte es dann kommen, dass einer, der so großzügig ist, derart aus dem Bewusstsein vieler verschwunden ist?
Und was die vielen detaillierten Darstellungen betrifft, in denen Wissenschaftshistoriker wie Evolutionsbiologen versucht haben, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Denken von Wallace und Darwin zu analysieren: Selbst wenn die Vorstellung, wie Divergenz und Selektion zusammenspielen, jeweils eine etwas andere ist, spielt dies für Darwin im Juni 1858 insofern keine Rolle, als er Wallace’ Idee zumindest für die gleiche wie seine hält; sonst wäre die Ankunft von dessen Ternate-Aufsatz nicht ein solcher Schock für ihn gewesen. So sind es nicht die Unterschiede, sondern weit wichtiger die Gemeinsamheiten ihrer Theorie, die die weiteren Ereignisse vorantreiben.
Dass Wallace unabhängig von Darwin den Mechanismus des Artenwandels findet, zeigt, dass der Evolutionsgedanke wie auch andere großartige Entdeckungen gewissermaßen in der Luft liegt und mehrere zugleich danach angeln. Auch große Wissenschaftler sind in die Strömungen ihrer Zeit eingebettet, schweben nicht frei im Raum. Beinahe sämtliche große Ideen sind gleich mehrfach gefunden und entwickelt worden, unabhängig voneinander und im Wesentlichen zur gleichen Zeit. Doch ist Wallace in der besten denkbaren Position, die Theorie der Arten zu entdecken. Wäre es ihm nicht gelungen, wäre es vielleicht ein anderer geworden; fraglich nur, ob noch rechtzeitig vor Darwins Veröffentlichung.
Eines wird sich Wallace zeit seines Lebens zugutehalten: Ohne ihn hätte Darwin sein Werk noch lange nicht publiziert und wohl auch nicht in einer straffen und gut lesbaren Version abgefasst. Dazu gibt erst Wallace den Anstoß. Und doch feiern wir Darwin zu Recht. Sein Verdienst bleibt es, eine solide Argumentation und jene Beweisstruktur geliefert zu haben, mit der er seine Theorie erstmals untermauert hat. Wallace sieht im Rausch seiner ersten Entdeckung nur jene Tatsachen, die sich harmonisch in seine Gedanken eingliedern. Darwin dagegen erwägt auch Aspekte, die sich nicht so leicht einfügen. Dass er viele Fragen eingehend durchdacht und abgewogen hat, macht sein Buch später beinahe unangreifbar,
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