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Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Titel: Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Glaubrecht
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Hat Darwin gar ein wichtiges Prinzip im Mechanismus der natürlichen Auslese von Wallace entliehen, um sein eigenes Werk zu vollenden und zu verbessern, ohne diesen als Urheber zu benennen? Immerhin blieben ihm zwei Wochen, um die entscheidenden Ein- und Umarbeitungen in seinem Buchmanuskript vorzunehmen.
    Im Gegensatz zur konventionellen Sichtweise – jener Wissenschaftslegende, die Brooks zu widerlegen angetreten ist – könnten sich die dramatischen Ereignisse im Sommer 1858 auch folgendermaßen zugetragen haben: Nachdem Darwin Wallace’ Manuskript in den ersten Juni-Tagen 1858 erhält, ist er verständlicherweise geschockt. Wallace ist ihm nicht nur mit einer publikationsreifen Fassung der Idee einer natürlichen Selektion zuvorgekommen. Darwin, der dazu möglicherweise ein zweites Mal jenen Sarawak-Aufsatz von Wallace aus dem Jahr 1855 liest (wenn er es bis dahin nicht ohnehin schon getan hat), begreift jetzt auch die volle Bedeutung des von Wallace erwähnten Divergenzprinzips. Hin- und hergerissen zwischen Verzweiflung und dem Bestreben, seinen Anteil an der Evolutionstheorie zu retten, schreibt er einen Brief an Lyell. Doch dann schickt er diesen nicht ab, sondern beginnt zuerst sein eigenes Buchmanuskript zur großen Artenfrage an einer entscheidenden Stelle zu ergänzen, indem er das Divergenzprinzip nochmals ausführlicher darstellt. Als er am 8. Juni damit weitgehend fertig ist, berichtet er Hooker in einem Brief von seinem Fortschritt. Zehn Tage später schickt er dann Wallace’ Manuskript an Lyell mit der Bitte um Rat – und insgeheim in der Hoffnung auf dessen Hilfe. Die der dann, gemeinsam mit Hooker, auch gewährt.
    Freispruch aus Mangel an Beweisen: All dies, so belegen die Postlaufzeiten und Fahrpläne der Dampfschiffe ebenso wie die Manuskript- und Textvergleiche, sind keineswegs nur haltlose Spekulationen. So wie es Tatsache ist, dass Darwin als Erster den Mechanismus der Selektion entdeckt, notiert und in seinen Essays ausformuliert hat, so hat Wallace als Erster ein publizierbares Manuskript dazu verfasst. Und doch werden wir nie sicher wissen, was wirklich geschah. Mehr als ein Anfangsverdacht sind all diese Ungereimtheiten nicht. Zugegebenermaßen fehlten kritische Beweisstücke – etwa jener entscheidende Brief von Wallace aus Ternate oder gar sein Manuskript; beides ist sehr wahrscheinlich für immer verschwunden, obgleich doch Darwin sonst so gewissenhaft alles aufbewahrt und bis heute ganze Historikergenerationen mit der Aufarbeitung seines umfangreichen Nachlasses beschäftigt. Indes beweisen das Fehlen dieser und anderer Dokumente nicht Darwins unehrenhafte Tat oder Schuld. Mag Darwin in manchen Augen auch noch so sehr unter Verdacht stehen, Wallace ausgetrickst zu haben, er kann aus Mangel an Beweisen nicht überführt werden.
    Die Darwin-Biographen Peter Bowler, Malcolm Jay Kottler und Janet Browne halten den Plagiatsvorwurf für unbegründet. Schließlich weisen Wallace und Darwin entscheidende biographische Parallelen auf. Sie haben beide unabhängig voneinander längere Forschungsreisen unternommen, haben die gleichen einflussreichen Bücher – darunter Thomas Malthus’ »Essay on the Principle of Population« und Charles Lyells »Principles of Geology« – gelesen und zusammen mit ihren Beobachtungen die richtigen Schlüsse zum Mechanismus der Evolution gezogen. Wenn sie dank der Koinzidenz ihrer Lebenswege und Lektüren auch beide auf gleichem Weg zu ihrem Aha-Erlebnis kamen; ihre anschließende Reaktion könnte kaum unterschiedlicher sein. Während Darwin zwei Jahrzehnte zögert zu publizieren und immer weitere Fakten sammelt, wartet Wallace gerade so lange, bis der Malariaanfall vorüber ist, um seine neue Idee zu Papier zu bringen. Entscheidender indes sei, so Bowler, Browne und Co., dass Darwin von Wallace schon deshalb nichts gestohlen haben könne, weil Darwins zentrale Ideen entweder älter seien (wie im Fall der natürlichen Selektion) oder sich im Detail deutlich von denen von Wallace unterscheiden (wie im Fall des Divergenzprinzips). Das freilich hat Darwin nicht davor bewahrt, bis ins Mark durch die Übereinstimmung in ihren Theorien erschüttert zu sein.
    Kein Zweifel, dass die Ankunft von Wallace’ Ternate-Manuskript entscheidend dafür war, dass Darwin endlich an die Öffentlichkeit ging. Doch im Unterschied zu John Brooks sind andere Historiker heute überzeugt davon, dass Darwin aus Wallace’ Aufsätzen nichts gelernt hat, was er nicht zuvor schon

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