Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
die verbliebenen 50 Prozent des Artenbestandes. Die meisten dieser Arten sind dort vom Aussterben bedroht; von einigen leben bereits nur noch eine Handvoll Tiere. Bemerkt und verzeichnet wird dies indes in erster Linie bei den attraktiven und anderweitig auffälligen Arten.
Tiger waren beispielsweise zu Wallace’ Zeiten in Singapur noch so zahlreich, dass von ihnen durchschnittlich ein Mensch pro Tag getötet wurde; insgesamt 390 Leben gingen etwa 1857 auf ihr Konto. Jenes Waldgebiet, in dem Wallace sich zuerst auf die Jagd nach Insekten und Vögeln machte, Bukit Timah, lag damals etwas außerhalb der Stadt Singapur; heute ist das Naturreservat eines der letzten isolierten Waldrelikte. Einst galten die Raubkatzen hier als derart häufig, dass das Gebiet bei den Einheimischen als »Tiger Resort« bezeichnet wurde. Vier Jahrzehnte später, 1896, wurde der letzte Tiger dort getötet. »Offiziell« ausgerottet ist diese Art in Singapur seit den 1930er-Jahren; nur der Name »Singa-pura« erinnert noch an eine Raubkatze (auch wenn der Mythos statt des Tigers einen Löwen benennt, der hier indes nie vorkam).
Anderswo erging es Panthera tigris, der sich einst vom Festland Asiens kommend über Sumatra und Java bis nach Bali ausbreiten konnte, nicht besser. Am Ende der Inselkette, auf Bali, starb die kleinste und am dunkelsten gefärbte Unterart des Tigers als Erstes aus. Der letzte balica wurde am 27. September 1937 bei Sumbar Kima im Westen der Insel geschossen. Die in den 1940er- und bis Anfang der 1950er-Jahre immer wieder auftauchenden Gerüchte über angebliche Sichtungen kennen wir in ähnlicher Weise von beinahe jeder anderen großen Tierart, die der Mensch kurz zuvor ausgerottet hat. Sie erinnern an den Phantomschmerz in amputierten Gliedmaßen. Wenn sie nicht mehr da sind, bemerken wir sie. Nur einige wenige Schädel, Knochen oder Felle sind heute in den Sammlungen europäischer Museen zu finden und zeugen überhaupt noch von der einstigen Existenz des Bali-Tigers.
Um 1900 lebten schätzungsweise noch 100000 Tiger in ganz Asien; aktuell sind kaum mehr als 3000 übrig geblieben, die einst tagaktiven Raubkatzen sind längst in die Nacht und die Nationalparks abgedrängt. Im Jahre 2012 kommt mit etwas mehr als 1700 Tieren knapp die Hälfte aller Tiger der Welt in Indien vor. Doch auch sie werden vermutlich kaum irgendwo im Freiland noch lange überleben. Vier der acht Unterarten des Tigers sind mittlerweile in freier Wildbahn durch Jagd und Wilderei ausgerottet, eine weitere steht mit ihren wenigen verbliebenen und versprengten Reliktbeständen kurz vorm Aussterben. Neben dem Kaspischen und dem auf Bali gehört dazu der einst auf Java und auf Sumatra beheimatete Tiger; von Letzterem leben bereits mehr in Zoos als im Freiland. Vom Südchinesischen Tiger Panthera tigris amoyensis lebten in den 1950er-Jahren noch etwa 4000 im Reich der Mitte, 1982 waren es bestenfalls noch 200 Tiere. Anfang der 1990er-Jahre fand man die letzten seiner Spuren; spätestens seit 2000 gilt er ebenfalls als ausgestorben. Die Dutzend Tiger in chinesischen Zoos sind nicht mehr reinrassig, sondern gelten als eingekreuzt mit corbetti, dem Indochina-Tiger.
Für Alfred Russel Wallace sah die Welt noch ganz anders aus. Er fand in Singapur Spuren von Tigern, die man in Fallen zu fangen versuchte, er hörte auf Bali die Berichte der Einheimischen über die gefährliche Raubkatze. Wallace sah auch mit eigenen Augen noch jenes eigenartige, sich gegeneinander abschottende Verbreitungsmuster ganzer Faunen. Viele ihrer Vertreter gibt es inzwischen nicht mehr. Wer heute etwa bei einem Stopover in Singapur in einem der parkartig angelegten Resorts auf der kleinen vorgelagerten Insel Sentosa absteigt (die eine der wenigen Grünzonen im Stadtmoloch bietet), dem begegnen nur mehr eingeschleppte Tiere, die hier einst gar nicht vorkamen; etwa der aus Indien stammende Myna-Star oder Rad schlagende Pfauen neben dem Schwefelhauben-Kakadu aus Australien. Auch unmittelbar zwischen Bali und Lombok, zwischen Borneo und Sulawesi ist die Wallace-Linie längst verblasst, sind unzählige Tierarten in beide Richtungen über die Wallacea hinweg verschleppt – oder verschwunden.
Man mag einwenden, dass das Verschwinden der Wallace-Linie allenfalls einige wenige Zoologen mit einem Faible für Biogeographie tangiere. Doch Abholzung und der Verlust einheimischer Arten sowie das Verschleppen, Vermischen und Verfüllen fremder Faunenelemente gibt es nicht nur in Singapur,
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