Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
anschauen. Darwin ist über diese »Vestiges« des mysteriösen Autors aufs Höchste beunruhigt; und das keineswegs wegen der darin entwickelten Ideen und Spekulationen, die seinen eigenen im Kern gar nicht so fremd sind. Viele Fakten sind darin zwar oft fehlerhaft dargestellt, weshalb das ganze Buch von vielen Forschern in Bausch und Bogen abgelehnt wird; doch was für Darwin noch schwerer wiegt: Das Buch erregt die Gemüter vieler im damaligen England, die an Naturdingen und der Artenfrage interessiert sind; keine gute Zeit und allgemeine Stimmung also, so glaubt Darwin, um ausgerechnet jetzt mit einer weiteren Theorie zur Entstehung von Arten noch Öl ins Feuer des öffentlichen Furors zu gießen. Keine Frage: Gerade hier könnte man auch anders handeln; doch Darwin beschließt nun, dass weder seine theoretische Abhandlung noch die Zeit reif ist für eine Veröffentlichung seiner Ansichten. Und so verpackt er sein Manuskript und verstaut es. Dann widmet er sich erst dem Abschluss seiner geologischen Arbeiten, um sich für die nächsten acht Jahre derart in minutiöse zoologische Studien zu versenken, dass er – so könnte man beinahe denken – darüber jene Theorie vergisst, die doch die Naturforschung revolutionieren soll.
Wallace kennt Darwin zu diesem Zeitpunkt allenfalls vom Hörensagen; und nur als Verfasser eines Berichts von dessen Reise um die Welt auf einem Vermessungsschiff seiner Majestät. Darwins »Voyage of the Beagle around the World« hat auch bei Wallace einen tiefen Eindruck hinterlassen. Der Bericht, der erstmals 1839, knapp drei Jahre nach Darwins Rückkehr nach England, veröffentlicht wurde, verkauft sich gut; bald schon ist eine neue Auflage nötig, die 1845 erscheint und die die weiteste Verbreitung findet. Allerdings wissen Wissenschaftshistoriker bis heute nicht verlässlich, ob Wallace bereits die erste Auflage von Darwins Reisebericht liest (was durchaus denkbar und möglich wäre) oder erst in Leicester die zweite Auflage. Sicher ist, dass Wallace während seiner eigenen Reisen im Archipel dann stets ein Exemplar von Darwins 1845er-Ausgabe dabeihaben wird.
Was wir ebenfalls sicher wissen, ist, dass in dieser Zeit in Leicester noch ein weiteres Buch enormen Eindruck auf Wallace macht. Er liest Alexander von Humboldts »Reise in die Äquinoktialregionen«; jene Beschreibung einer Tropenreise, die mehr als eine Generation von Naturforschern inspiriert. Darwin beispielsweise wollte als junger Student in Cambridge eine Expedition nach Teneriffa unternehmen, wo Humboldt den Vulkanberg Teide bestiegen und von wo er erstmals eine auffällige Höhenzonierung der Pflanzen beschrieben hat. Später in den Anden, am Antisana und Chimborazo in Ecuador, fand Humboldt etwas ganz Ähnliches vor und dokumentierte dies gleichsam als »Naturgemälde der Tropen«, wie er es nennt. Auch unser junger Wallace, der seinen Humboldt in der gut ausgestatteten Bibliothek in Leicester entdeckt haben wird, ist begeistert vom deutschen Weltenwanderer aus Berlin – und träumt fortan von Abenteuern in tropischen Gefilden.
Weniger idyllisch ist dagegen das Bild, das ein gewisser Thomas Robert Malthus von der Welt zeichnet. Auch dessen Buch liest Wallace vermutlich in seiner Zeit in Leicester zum ersten Mal. Ähnlich wie bei Charles Darwin wird Malthus auch entscheidenden Einfluss auf Wallace’ theoretische Überlegungen haben. Der Verfasser war Geistlicher und Historiker, vor allem aber gilt er als einer der Väter der Nationalökonomie. Mit seinem bereits 1798 erschienenen »Essay on the Principle of Population« hat er das Denken vieler Menschen beeinflusst; kein Wunder, seine Thesen sind drastisch genug. Malthus thematisierte erstmals den Zusammenhang von Zunahme der Bevölkerung und Produktion von Nahrungsmitteln; anders gesagt: von Überbevölkerung und Existenzkampf beim Menschen. Unter dem unmittelbaren Eindruck seiner Zeit meint er, Unfälle, Krankheiten, Kriege und Hungersnöte seien natürliche und notwendige Wachstumskontrollen der Menschheit, ohne die sie sich ansonsten einmal im Vierteljahrhundert verdoppeln würde. Als konservativer Nationalökonom wollte Malthus mit seinem Essay davor warnen, mittels Almosen und öffentlicher Unterstützung der Armen die zwangsläufigen Hungersnöte und Verteilungskämpfe, zu denen es in England damals kam, noch zu verschlimmern, da dadurch mehr Arme überlebten und sich vermehrten. Malthus’ Schlussfolgerungen sind brutal, seine Empfehlungen zutiefst
Weitere Kostenlose Bücher