Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
inhuman.
Noch ohne sich über die Implikationen seines eigenen Denkens völlig klar zu sein, schildert Malthus indes eindrücklich eines der Grundprinzipien der Natur, von ihm angewandt auf den Menschen. Es ist dies »die dauernde Neigung der Lebewesen, sich über das Maß der vorhandenen Lebensmittel hinaus zu vermehren«. Dabei ging es ihm gar nicht in erster Linie um ein Naturprinzip; als Volkswirtschaftler beschrieb er den Kampf um die Existenz beim Menschen vor allem, weil er sein Land auf die Gefahren der Überbevölkerung aufmerksam machen wollte und um eine Beschränkung der Kinderzahl zu fordern. Sein grundlegender Gedanken – dass jede Art zur starken Vermehrung tendiert, die größer ist als die Verfügbarkeit von Nahrung –, dieser Gedanke entfaltet dann im Herbst 1838 bei Charles Darwin seine ganze Sprengkraft. Der weiß zu diesem Zeitpunkt um den allgegenwärtigen Kampf ums Dasein in der Natur – »all nature is at war«; obgleich er sich Malthus’ menschenverachtende Haltung nie zu eigen machen wird. Darwin weiß aber auch, dass sich bei den meisten Tieren selbst über lange Zeiträume hinweg die Anzahl der Individuen nicht verändert. Es muss also, so überlegt er, irgendeine kontrollierende Instanz geben – und so findet Darwin plötzlich in der natürlichen Selektion den lange gesuchten Schlüssel zur Lösung des Artenrätsels.
Wie Wallace selbst später berichtet, liest er im Jahr 1844 in Leicester ebenfalls Malthus’ kleines Büchlein mit der großen Wirkung. Vierzehn Jahre danach wird er sich, weit entfernt am Ende des Archipels, ebenfalls daran erinnern und unabhängig von Darwin das Geheimnis der Arten auf ähnliche Weise erklären. Warum unser junger Wallace in der Bibliothek ausgerechnet zum Aufsatz von Malthus greift, ist nicht geklärt; es ist nicht einmal klar, ob es nur reiner Zufall war. Malthus’ Essay ist jedenfalls »das erste philosophische Werk, das ich jemals zu einem Problem der theoretischen Biologie las«, bekennt Wallace; »sein grundlegendes Prinzip aber blieb mir ständig gegenwärtig«. Der amerikanische Wissenschaftshistoriker Frank Egerton glaubt, dass es letztlich Alexander von Humboldt gewesen sei, der Wallace auf Malthus aufmerksam gemacht haben könnte. In der Tat erwähnt Humboldt ihn erstmals in seiner »Reise in die Äquinoktialregionen« im Kapitel über die Kanarischen Inseln. Darin diskutiert er in seiner für ihn typischen, exakten und auf Zahlen versessenen Art Angaben zu den Einwohnern einzelner Inseln, aufgrund der er diesen Flecken Erde »noch lange vom Übel der Überbevölkerung bewahrt« sieht, »deren Ursachen Malthus so sicher und scharfsinnig entwickelt hat«. Später, auf der anderen Seite des Atlantiks, als Humboldt sich mit der Zunahme der Bevölkerung in den neuspanischen Besitzungen beschäftigt, erwähnt er Malthus noch ein zweites Mal, indes ebenso kursorisch und kurz. Wenn Egerton behauptet, dass Humboldt seinen Leser geradezu empfehle, Malthus zu lesen, so dürfte er in die erwähnten Textstellen in dessen Reisebericht bei Weitem zu viel hineinlesen.
Dagegen glaubt der britische Historiker James Moore, dass Wallace aus einem ganz bestimmten Grund Malthus las, in jedem Fall aber vor einem damals höchst aktuellen Hintergrund. In Wales brechen zu dieser Zeit mehrfach Aufstände und Unruhen aus, weil sich die Menschen gegen die großen Grundbesitzer und das sie knechtende System der Landpacht auflehnen. Den von Malthus beschriebenen Existenzkampf, der hier ein Kampf Arm gegen Reich ist, hat Wallace spätestens 1843 bei den walisischen Farmern mit eigenen Augen beobachten können. So wenig wie ihn dies unbeeindruckt lässt, und so wichtig die vielfältige Lektüre jetzt in der Bibliothek von Leicester für Wallace’ Werdegang ist; folgenschwerer noch – auch für die Entwicklung einiger Bereiche der Biologie – ist eine Begegnung, zu der es dort im gleichen Jahr kommt.
Auftritt Henry Walter Bates: Über die genauen Umstände ihrer ersten Begegnung wissen wir kaum etwas; nur, dass Wallace in der Bibliothek von Leicester um die Mitte des Jahres 1844 die Bekanntschaft eines jungen Kaufmannsgehilfen aus der Strumpfwarenbranche macht. Dessen Welt sind indes nicht Textilien allein. Henry Walter Bates, zwei Jahre jünger als Wallace und wie dieser ein naturkundlich interessierter Autodidakt, begeistert sich fürs Insektensammeln. Er ist es, der Wallace in die Wunderwelt der Käfer einführt; von ihm lernt Wallace die Grundbegriffe der
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