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Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Titel: Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Glaubrecht
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etwas Algebra und Trigonometrie lernen; im Integralrechnen ist er schnell an den Grenzen seiner Möglichkeiten und anfangs seinen Schülern nur wenig voraus.
    In Leicester ergeht es ihm bestens, Reverend Hill und dessen Frau behandeln ihn gut; und wir könnten uns leicht ausmalen, wie er dort als zufriedener Lehrer ein Leben lang bleibt, ohne dass wir je etwas von diesem Alfred Russel Wallace gehört hätten. Doch es kommt anders. Später wird Wallace in seiner Autobiographie schreiben: »Mein Jahr in Leicester muss vielleicht als das wichtigste in meinem frühen Leben angesehen werden.« Und zum wichtigsten Ort in dieser Zeit wird die Stadtbibliothek von Leicester. Bibliotheken sind ohnehin geradezu magische Orte, wie jeder weiß, der sich einmal auf diese Bücherschatztruhen mit ihren Wissenswelten eingelassen hat. Für die Welt des jungen Wallace wird die Bibliothek in Leicester gewissermaßen zum zentralen Gravitationszentrum, seine Zeit dort schließlich zum Wendepunkt.
    Überhaupt ist das Jahr 1844 so etwas wie das Schicksalsjahr der Evolutionstheorie, für ihre beiden Entdecker gleichermaßen. Im Örtchen Downe in der Grafschaft Kent, weiter im Südosten noch jenseits der großen Stadt London gelegen, arbeitet Charles Darwin in jenem Jahr an einem ersten handschriftlichen Entwurf seines Essays über die Entstehung von Arten. Beinahe alle Mosaikteilchen seiner Theorie hat er beisammen und bereits zwei Jahre zuvor auf knapp 35 mit Bleistift geschriebenen Manuskriptseiten eine erste grobe Fassung von der Theorie zur Entstehung der Arten entworfen. Jetzt im Sommer 1844 findet er endlich Zeit und Muße, daraus eine 230 Seiten umfassende ausführliche Darstellung zu entwickeln. Anstatt sie aber einem Verleger zur Veröffentlichung anzubieten, geschieht etwas Eigenartiges – etwas, das Historiker noch lange danach rätseln lassen wird. Darwin gibt den handschriftlichen Entwurf mit seinen vielen Änderungen und Ergänzungen dem Dorflehrer zur Abschrift, verpackt und verschnürt diesen bereits recht ausgereiften Essay seiner Artentheorie dann sorgfältig zum Paket – und legt es zur Seite; nicht allerdings, ohne das Manuskript noch mit einem Brief und testamentarischer Verfügung an seine Frau Emma zu versehen. Sie solle doch bitte im Fall seines vorzeitigen Todes – Darwin ist leicht hypochondrisch und rechnet zu dieser Zeit ständig damit, dass er nicht mehr lange leben wird – etwas Geld in die Hand nehmen und für die Herausgabe seiner »Species-Theorie«, wie er es nennt, sorgen. »Wenn meine Theorie mit der Zeit auch nur von einem einzigen kompetenten Beurteiler angenommen wird, so wird dies ein beträchtlicher Fortschritt für die Wissenschaft sein«, teilt er in diesem feierlichen und letzten Wunsch seiner Frau im Brief vom 5. Juli 1844 mit. Glücklicherweise muss Emma Darwin von seinem Vermächtnis keinen Gebrauch machen; wir wissen nicht einmal sicher, ob sie den Brief und frühen Essayentwurf je zu Gesicht bekommen hat. Tatsächlich tauchen beide erst wieder auf, als die Nachfahren nach Emma Darwins Tod 1896 Down House aufgeben und zufällig das Papierbündel finden. Es liegt wohlverwahrt, so müssen wir uns das vorstellen, mit einigem Gartengerät in einer holzverkleideten Abseite unter dem Aufgang zur Treppe, die auf der Gartenseite des Hauses innen zum oberen Stockwerk führt. Dieser Essay muss dort jahrzehntelang unbeschadet gelegen haben; er wird erst 1909, anlässlich Darwins Geburtstag, von dessen Sohn Francis publiziert. Was aber ist 1844 geschehen, das Darwin davon abhielt, bereits diesen ersten ausführlicheren Entwurf seiner Theorie zu veröffentlichen? Was immer es war, es ist von entscheidender Bedeutung für unsere Geschichte. Denn hätte Darwin bereits 1844 an die Öffentlichkeit gebracht, was er damals über die Entstehung von Arten wusste, wäre es nie zum Wettlauf mit Wallace gekommen. Und wer weiß, ob dieser dann jemals zur Suche nach der Lösung des großen Rätsels zuerst an den Amazonas und anschließend zum Archipel am Rande der Welt aufgebrochen wäre.
    Statt Darwins Essay erscheint 1844 in England ein anderes Buch, von einem Autor, der lange anonym bleibt, dessen Werk aber für erhebliches Aufsehen sorgt; ein Buch mit dem etwas sperrigen Titel »Vestiges of the Natural History of Creation«; zu Deutsch so viel wie »Spuren der Naturgeschichte der Schöpfung«. Dieses Buch wird auch für Wallace in Leicester von zentraler Bedeutung sein, und wir müssen es uns gleich noch näher

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