Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
mithin recht abgeschnitten von entsprechenden Nachrichten, allzu lange keine Reaktion auf seinen Sarawak-Aufsatz bekommt, wendet er sich direkt an Charles Darwin und schreibt ihm, inzwischen auf Celebes eingetroffen, am 10. Oktober 1856 einen Brief. Erinnern wir uns daran, dass bereits der achtzehnjährige Landvermesser in Wales sich einst mit einer Frage bezüglich der eigenen Vorstellungen zu optischen Gesetzen, die bei photographischen Verfahren der Astronomie Anwendung finden könnten, an einen ihm persönlich unbekannten Gelehrten gewendet hat. Diesmal erhofft sich Wallace Rat von einem der Großen britischer Naturkunde, dessen Reisejournal er mehrfach gelesen hat. Doch nicht nur deswegen.
Meist wird dabei ein anderer, keineswegs unwichtiger Umstand übersehen. Ganz ohne Anlass dürfte es nämlich nicht gewesen sein, dass Wallace ausgerechnet an Darwin und nicht etwa an Lyell schreibt, mit dem er sich ja in den Aufzeichnungen zu seinem Arten-Buch viel mehr beschäftigt. Im Dezember 1855, als Darwin sich mit der Variation domestizierter Tiere beschäftigt, verfasst er ein Memorandum, das er an mehrere Naturkundler überall auf der Welt sendet, darunter auch Samuel Stevens und Sir James Brooke. Darin die Bitte, ihm für Vergleichszwecke verschiedene Haustiere – Hühner und Gänse, Tauben, Katzen und Hunde – zu schicken, die an den entlegensten Ecken der Erde über Generationen gezüchtet werden. Einer derjenigen, den Darwin in diesem Zusammenhang kontaktiert, ist ein gewisser »R Wallace«, wie seine Aufzeichnungen zeigen. Der Bitte des bekannten Forschers kommt der junge Wallace gern nach und schickt schon wenige Monate später über Samuel Stevens nicht nur eine domestizierte Ente an Darwin, sondern von der Insel Lombok aus auch eine, wie er meint, Urform des Hausgeflügels. Darwin ist über diese und andere Zuchtexemplare übrigens sehr froh (sicher nicht von jedem lässt sich das sagen, dem von überall her aus der Welt plötzlich tote Hühner ins Haus flattern); allerdings kosten ihn diese Erwerbungen von den über die Welt verteilten Naturkundlern ein kleines Vermögen, bemerkt Darwin nach einem Jahr in einem Brief.
Wann auch immer Darwin den Sarawak-Aufsatz von Wallace liest und wann immer er ihn wirklich in seiner vollen Bedeutung wahrnimmt, spätestens im April 1856 verdichtet sich für ihn die Erkenntnis, dass mehrere Naturforscher wie Charles Lyell und Edward Blyth gelesen haben, auf welche originelle Idee vom Naturgesetz des Artenwandels Wallace gekommen ist. Darwin ist mit seiner Idee nicht mehr allein und er muss handeln. Gern hätten wir jenen ersten Brief gelesen, in dem Wallace im Herbst 1856 auf die brisante Artenfrage zu sprechen kommt. Ganz direkt will er nun offenbar von Darwin wissen, was dieser von seinen Überlegungen im Sarawak-Aufsatz hält. Allerdings wissen wir von Existenz und Inhalt dieses ersten Briefes nur indirekt, aus der späteren Antwort Darwins. Denn Wallace’ Schreiben ist unglücklicherweise verloren gegangen. Es ist der erste in einer Serie verschollener Briefe in der Korrespondenz dieser beiden Männer, die ansonsten sorgfältig beinahe alles, was sie beschreiben, aufzuheben und zu archivieren pflegen. Dass ausgerechnet die entscheidensten Teile ihrer Korrespondenz nicht mehr auffindbar sind, gehört zu den ebenso auffälligen wie letztlich niemals aufgeklärten Umständen in unserer Geschichte.
Von Bali nach Aru –
Die Linie
(Juni 1856 – Juli 1857)
Wallace sitzt fest, wieder einmal. Überdies auf einer Insel, zu der er ursprünglich gar nicht reisen wollte. Allerdings bietet sie ihm jetzt durchaus reizvolle Ausblicke, wohin er sich auch wendet. Ein breiter Strand mit schwarzem vulkanischen Sand, dazu eine heftig schäumende Brandung, die hier mit laut donnerndem Getöse aufläuft. Davor reiche Korallenriffe in einer dunkel türkisfarbenen See, die sich weit entlang der Küste erstrecken. In der Ferne die breit gezackte Silhouette des höchsten Vulkanbergs im Archipel, des Gunung Rinjani, mit seiner regensatten Vegetation. All dies von der Tropensonne beschienen, die jetzt im Westen jenseits der schmalen Meeresstraße langsam tiefer wandert. Allmählich taucht sie dort drüben den Gunung Agung, den heiligen Berg im Osten Balis, in ein sanftes goldenes Licht. Fischer ziehen vor ihm ihre kleinen Boote auf den Strand von Ampanam. Wallace sitzt an der Westküste von Lombok fest. Bali ist beinahe zum Greifen nahe, der nächste Segler nach Celebes längst nicht in
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