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Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Titel: Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Glaubrecht
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zurückgehen. Und der Historiker Frank Egerton glaubt, bei Wallace’ sei deshalb wenig Neues zu finden, weil Darwin in der Sarawak-Arbeit vor allem seine eigenen Ideen wiederfinde, die Wallace aus Passagen von Darwins »Beagle« -Reisebericht habe; freilich ohne dass sich Wallace bewusst gewesen wäre, dies vor langer Zeit bereits bei Darwin gelesen zu haben. Jeder, der selbst schreibt und noch mehr liest, kennt die Gefahr und das Problem. Als konkreten Beleg zitiert Egerton einige Sätze von Darwin, mit denen dieser über ausgestorbene Kamelverwandte in Patagonien berichtet, und wir folgen diesmal Darwin im Originalton: »The most important result of this discovery, is the confirmation of the law that existing animals have a close relation in form with extinct species.« Tatsächlich: solch ein Naturgesetz oder »law«, das existierende mit ausgestorbenen Arten verbindet, wird dann bei Wallace zum Kerngedanken des Sarawak-Aufsatzes. Wenig verwunderlich, so Egerton, dass Darwin mithin wenig beeindruckt von Wallace gewesen sei. Und keine Frage: Wallace verwendet in seiner ersten großen Arbeit die Erkenntnisse und Einsichten anderer, vor allem die Lyells, Chambers’ und Darwins. Doch es ist seine originäre Leistung, für die er volle Anerkennung verdient, diese Fakten unter Hinzunahme seiner eigenen persönlichen Entdeckungen zu einer in sich geschlossenen und letztlich überzeugenden Argumentation zum Artenwandel verknüpft zu haben. Entstanden ist daraus ein »powerful essay«, wie Thomas Huxley später urteilen wird, zu Recht. Und Darwin, wenigstens anfangs nicht sonderlich überrascht, irrt sich, wenn er denkt, Wallace hätte hier nichts Neues geschaffen.
    Andererseits vermerkt Darwin Folgendes am Rand seiner Ausgabe der »Annals«, und hier können wir uns seine Verblüffung nun lebhaft vorstellen: »uses my simile of tree«. Als Darwin bei Wallace liest, wie dieser das Prinzip der auseinander hervorgehenden Arten, die sich räumlich wie zeitlich ablösen, mit dem Gleichnis einer alten Eiche als Stammbaum erläutert, strichelt er selbst – und wir sehen ihn förmlich vor uns, wie er dabei lange sinnierend vor sich hinstarrt – eine Art sich verzweigenden Baum in die Randspalte seines Journals. Dies sei, so merkt Langdon Brooks an, der Prototyp jenes Verzweigungsschemas, das sich als einzige Illustration in Darwins späterem Buch über die »Entstehung der Arten« findet. Hier, am Rande eines Artikels seines Konkurrenten beim Wettlauf um die Entdeckung der Evolution, entwirft Darwin gleichsam den Erlkönig jenes genealogischen Baumes, wie er heute in der Stammesgeschichtsforschung allgegenwärtig ist, wo solche Verzweigungsschema gleichsam zur Lingua franca der Systematik geworden sind.
    Wir dürfen aber bei alldem nicht vergessen, dass Darwin natürlich auch sieht, dass Wallace nirgends die Triebkraft für diese Entwicklung und die Entstehung neuer Arten benennen kann. Fraglos ist es Wallace in sehr eleganter Weise gelungen zu belegen, dass sich Arten entwickeln, ohne aber schon die Lösung gefunden zu haben. Deshalb vor allem, so meinen Historiker, sieht Darwin in Wallace’ Aufsatz nichts Neues. Was diesem noch fehlt, ist die Idee vom Überleben der am besten Angepassten – jener Gedanke, den zuerst Darwin und dann Wallace ihrer Lektüre von Thomas Malthus und dessen brutaler Forderung vom »survival of the fittest« verdanken. Diese Mosaiksteine richtig zusammenzusetzen wird Wallace die kommenden drei Jahre beschäftigen, während er weiter Daten zur Verbreitung der Tiere im Archipel sammelt, die dann zum Schlüssel seiner Erkenntnis werden. Was Wallace indes braucht, sind nicht nur weitere Fakten und Belege; er braucht vor allem einen neuen Blickwinkel, unter dem all diese Befunde zu bewerten sind. Sein Interesse am Menschen und dessen Werden wird ihn schließlich auf den richtigen Weg bringen.
    Es gibt also einiges an Verwirrung um den Sarawak-Artikel, sowohl bei den beiden Helden unserer Geschichte selbst als auch bei deren Biographen. So kann sich Wallace viele Jahre später nicht mehr daran erinnern, dass es nicht Verbreitungstatsachen, sondern unmittelbar die irrigen Ansichten eines Edward Forbes waren, die ihn während der ersten Regenzeit auf Borneo dazu brachten, sein Naturgesetz des Wandels zu formulieren. Auch von Darwin, ohnehin nicht sehr redselig, wenn es um Anstöße und unmittelbare Auslöser seiner Ideen geht, erfahren wir nicht wirklich, wann er selbst erstmals den Sarawak-Aufsatz liest

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