Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
und was er wirklich dazu denkt. Doch ganz unabhängig davon, welcher Interpretation der Historiker man auch folgen mag: Durch die halbe Welt getrennt, in der jeder Brief mit wenigstens drei Monaten Postweg beinahe eine gefühlte Ewigkeit unterwegs ist, sind sich Wallace und Darwin in ihrem Denken jetzt schon sehr nahegekommen. Während aber Wallace noch nichts davon ahnt und erst im Verlauf des folgenden Jahres 1857 von Darwins Arbeiten zur Artenfrage erfährt, ist Darwin bereits frühzeitig über ihn im Bilde.
Auf dem Weg zu Darwins »großem Artenbuch« – Down House, April 1856: Die Darwins in Downe haben Besuch. Mitte April sind der Geologe Charles Lyell und seine Frau gekommen, um bei ihnen ein paar gemeinsame Tage zu verbringen. Wie wir heute sicher aus ihren Briefen und Tagebüchern rekonstruieren können, macht Lyell seinen Gastgeber dabei auf Wallace’ Sarawak-Artikel aufmerksam. Lyell fand diesen im vorangegangenen November derart anregend, dass er prompt ein neues Notizbuch mit Überlegungen dazu anlegte. Darwin wiederum weiß sich mit seinen ketzerischen Gedanken deutlich im Gegensatz zu Lyell. Der Geologe hatte in einem Vortrag jegliches Zugeständnis an den Evolutionsgedanken entschieden abgelehnt. Seit Darwin seinen Essay von 1844 verfasst und verstaut hat und auch seiner Frau Emma gegenüber dieses Thema tunlichst vermied, hat Darwin nur wenigen Eingeweihten überhaupt davon berichtet. Am 16. April nun erläutert er Lyell erstmals umfassend seine Theorie zur Bildung neuer Arten durch natürliche Selektion, wie er sie bisher nur Joseph Hooker dargelegt hat. Mit seiner Idee der Auslese, so Darwin, lässt sich auch die von Wallace beschriebene Naturgesetzlichkeit leicht und widerspruchsfrei erklären. Obgleich Lyell vom Artenwandel keineswegs überzeugt ist (und noch mehr als ein Jahrzehnt nicht sein wird), drängt er Darwin dennoch mit allem Nachdruck dazu, er solle seine Vorstellungen veröffentlichen, sofern er nicht riskieren wolle, dass ihm ein anderer wie etwa Wallace zuvorkomme. Denn dass sich beide auf derselben Spur befinden, das sieht Lyell – offenbar viel deutlicher als Darwin selbst. Der meint noch nicht genug Fakten gesammelt zu haben und erklärt Lyell gegenüber, noch nicht so weit zu sein. »Ich wünschte, Sie würden wenigstens einen kurzen Abriss Ihrer Befunde geben, über Taubenzucht und so weiter, wenn Sie dies wünschen, aber in jedem Fall raus mit der Theorie«, schreibt Lyell kurze Zeit später in einem Brief an Darwin. Der bedankt sich für den Ratschlag; natürlich sei es sehr ärgerlich, wenn ihm nun jemand zuvorkäme, aber er wolle lieber nicht vorschnell an die Öffentlichkeit gehen, nur um dies als Erster zu tun. Aber jetzt lässt ihm die Sache keine Ruhe mehr. Er bespricht sich mit Joseph Hooker, der ihm abrät. Schließlich, einen Monat nach dem Besuch von Charles Lyell – am 14. Mai 1856, wie ein entsprechender Tagebucheintrag vermerkt –, folgt Darwin dessen Rat und beginnt einen ersten kurzen Entwurf, den sogenannten »species sketch« als einen Überblick gewährenden Essay über seine Theorie zur Entstehung von Arten. Nach fünf Monaten gibt er diesen Plan, seine Vorstellungen in einer nur kurzen gerafften Skizze darzulegen, auf (von dieser Skizze kennen wir übrigens leider keine Manuskriptfassung oder andere Zeugnisse). Stattdessen macht Darwin sich im Oktober 1856 daran, das Manuskript zu einem mehrbändigen Werk zu verfassen. Hunderte Manuskriptseiten zu diesem Buch mit dem Titel »Natural Selection« wird Darwin schreiben; doch wird das Werk zu seinen Lebzeiten nie erscheinen, weil ihm Wallace dazwischenkommt.
Letztlich sind sich die meisten Wissenschaftshistoriker bei allen Unterschieden in der Bewertung vieler Details über eines einig: Wallace’ Sarawak-Aufsatz ist allein schon deshalb wichtig, weil er Lyell dazu anregt, sich mit Darwin über dieses Thema auseinanderzusetzen. John Langdon Brooks geht einen Schritt weiter und sieht in Wallace’ Arbeit sowohl den Auslöser wie auch das Motiv dafür, dass Darwin sich endlich daranmacht, seine Theorie aufzuschreiben. Wallace dient bereits 1856 als Katalysator für Darwin, wenn auch auf dem Umweg über Lyell, der ihn warnt.
Bevor wir uns nun den Ereignissen um den Aufsatz von der Gewürzinsel Ternate zuwenden, müssen wir noch kurz untersuchen, wie es überhaupt zur Korrespondenz zwischen Wallace und Darwin kommt. Die meisten Biographen erklären das bislang so: Nachdem Wallace, unterwegs im Archipel und
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