Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
zuvor so friedlich, langweilig und idyllisch gewesen war wie in jedem Frühling, wandelte sich schlagartig. Das Böse war greifbar geworden. Noch wußte niemand es genau zu definieren, noch hatte es kein Gesicht. Aber es hatte alles Grauen, das es in sich barg, über dem kleinen, abgeschiedenen Ort ausgeschüttet, schlimmer und furchtbarer, als irgend jemand in der Gemeinde je fähig gewesen wäre, es sich auszumalen.
Alle hatten Angst. An diesem sonnigen, warmen Aprilnachmittag spielte nicht ein Kind auf den Straßen des Dorfes.
Geraldine erfuhr im Gemischtwarenladen von dem Drama. Sie hatte Stunden in ihrem Zimmer verbracht, sich mit der Frage herumgeschlagen, ob sie wirklich abreisen sollte, und war immer wieder zu dem Ergebnis gelangt, daß ihr nichts anderes übrigblieb, wenn sie einen Funken Selbstachtung bewahren und auch in Phillips Augen nicht völlig lächerlich dastehen wollte. Schließlich hatte sie schluchzend ihre Sachen gepackt und an der Rezeption Bescheid gesagt, daß sie an diesem Tag noch nach London zurückmüsse. Sie hatte ihre Sonnenbrille aufgesetzt, damit niemand
ihre verweinten Augen sah, aber das picklige Mädchen vom Hotel musterte sie mit so penetranter Neugier, als wisse es ganz genau, was los war, und als brenne es nur darauf, nähere Details zu erfahren.
Es war halb fünf, als sie zum Laden hinüberging, um sich ein paar Flaschen Mineralwasser für die Fahrt zu kaufen. Gegessen hatte sie den ganzen Tag noch nichts, aber sie verspürte auch keinen Hunger, sondern fürchtete im Gegenteil, sich übergeben zu müssen, wenn sie auch nur einen Bissen zu sich nahm. Im Hotel war es kühl gewesen, und sie stellte überrascht fest, welche Wärme draußen herrschte. Sie trug eine graue Jogginghose und ein flauschiges, schwarzes Sweatshirt und war damit viel zu warm angezogen. Schon nach ein paar Metern lief ihr am ganzen Körper der Schweiß herunter, und auch mit ihrem Kreislauf schien irgend etwas nicht zu stimmen; jedenfalls flimmerte die Dorfstraße immer wieder vor ihren Augen.
Egal. Eigentlich war jetzt sowieso alles egal.
Der Gemischtwarenladen war voller Menschen, und fast wäre sie erschrocken zurückgewichen. Sie hatte in der Zeit, die sie hier verbracht hatte, schon mitbekommen, daß der Laden beliebter Treffpunkt und Umschlagplatz für Tratsch und Klatsch aller Art war, und es war durchaus nicht unüblich, dort ein paar Frauen in angeregtem Gespräch anzutreffen. Aber diesmal quoll der kleine Raum förmlich über, und die Gesprächswogen schlugen deutlich hoch, weit über das normale Maß hinaus.
Als Geraldine in der Tür erschien, verstummten alle und sahen wie auf Kommando zu ihr hin, und im ersten Augenblick dachte sie schon, sie selbst sei Gesprächsgegenstand gewesen, und fühlte sich instinktiv zu sofortiger Flucht bereit. Es verunsicherte sie, klebrig, verschwitzt und mit fettigen Haaren vor dem versammelten Dorf zu stehen, getarnt mit einer Sonnenbrille, hinter der sich monströs verschwollene, tiefrote Augen verbargen.
Doch wie sich herausstellte, interessierte sich niemand für ihre Aufmachung und ihren ganz persönlichen Kummer.
»Haben Sie es schon gehört?« fragte Mrs. Collins, gierig darauf, einen Menschen zu treffen, dem man die Sensation noch einmal ganz neu und von vorn darlegen konnte. »Haben Sie schon von den schrecklichen Morden in Stanbury House gehört?«
Sie hatte tatsächlich noch nichts davon gehört, wie sollte man auch etwas vom Weltgeschehen mitbekommen, wenn man den ganzen Tag im Zimmer saß und heulte? Später erinnerte sie sich jedoch, daß sofort eine Alarmglocke bei ihr angeschlagen hatte, als sie von dem Verbrechen in Stanbury House erfuhr. Etwas in ihr wurde hellwach und aufmerksam.
Mrs. Collins hatte sich mit ihrer raschen Frage das Recht erworben, die Geschichte vor Geraldine ausbreiten zu dürfen, und sie tat es voller Genuß, gelegentlich natürlich von den Einwürfen der anderen unterbrochen, die etwas hinzufügen oder ausschmücken wollten. Eine gewisse Uneinigkeit herrschte über die genaue Zahl der Opfer. Mrs. Collins beharrte darauf, von wenigstens zwei Überlebenden gehört zu haben, während ihre Schwester felsenfest behauptete, dem Massaker seien sämtliche Angehörige der kleinen Feriengruppe zum Opfer gefallen.
»Ein Kind soll im Krankenhaus liegen!« rief jemand, und ein anderer mischte sich ein: »Einer von denen ist ja angeblich geflüchtet und steht unter dringendem Tatverdacht!«
»Auf jeden Fall«, schloß Mrs.
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