Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
darüber, wie absurd sich das alles anhören mußte. Dennoch machte es wohl kaum einen Sinn, der Polizei gegenüber Informationen zurückzuhalten.
»Ricarda war offenbar bereits verschwunden, als wir alle heute früh aufwachten.« Sie berichtete in kurzen Worten von dem Eklat mit dem Tagebuch, wobei sie die Haßgefühle, die darin zum Ausdruck gekommen waren, nicht erwähnte, sondern sich auf die Romanze beschränkte, die Ricarda mit einem Jungen aus der Gegend begonnen hatte.
»Sie hat sich verliebt, und sie wollte soviel Zeit wie möglich mit dem Jungen verbringen. Ich hielt das für ganz normal. Aber Patricia war anderer Meinung.«
»Patricia Roth«, sagte er nachdenklich, »sie gab hier den Ton an?«
»Nun, es ist … es war ihr Haus, und …«
»Schon. Aber Ricarda war nicht ihre Tochter. Mir erscheint es ungewöhnlich, wie stark sie sich offenbar in diese Angelegenheit eingemischt hat.«
»Sie war einfach so«, sagte Jessica, und voller Grauen dachte sie: Wir reden von ihr in der Vergangenheit. Vor ein paar Stunden habe ich noch mit ihr gesprochen, und jetzt ist aus dem Ist ein War geworden.
»Wer ist der junge Mann, mit dem sie sich trifft?«
»Wir kennen ihn nicht.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Nein?«
»Die Sache hatte sich hier so zugespitzt … sie weigerte sich schließlich, uns den Namen ihres Freundes zu nennen.«
Er musterte sie eindringlich aus seinen klugen Augen. »Nicht so ganz die harmonische kleine Feriengemeinschaft, oder?«
Sie erwiderte nichts darauf. Er seufzte leise. »Sie vermuten, Ricarda ist jetzt bei ihrem Freund?«
»Ja.«
»Man sollte sie finden. Schließlich muß sie erfahren, daß …« Er sprach den Satz nicht zu Ende.
Daß ihr Vater tot ist , dachte Jessica, und für einen Moment wurde ihr schwindlig, ihre Hand griff hilfesuchend nach der Armlehne des Sessels.
Das Gesicht des Superintendent war dicht vor ihrem. »Was ist? Ist Ihnen nicht gut? Soll ich den Arzt herüberbitten?«
Sie konnte wieder klar sehen. »Nein, danke. Es geht schon.«
»Sie sind eben ganz weiß im Gesicht geworden.«
Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Ein feuchter Film hatte sich auf ihr Gesicht gelegt. »Ich … die ganze Sache …«
Er sah sie mit aufrichtigem Mitgefühl an. »Entsetzlich. Ein Alptraum. Ich bewundere, wie sehr Sie die Fassung bewahren.«
Irgendwann werde ich nicht mehr weiterkönnen, dachte sie.
»Sie sagen, Sie haben gegen zehn Uhr das Haus verlassen«, fuhr Norman fort, »und zu diesem Zeitpunkt war Ricarda nicht auffindbar. War Mr. Roth - Leon - noch da?«
Sie überlegte. »Ich kann es Ihnen nicht sagen. Gesehen habe ich ihn nicht, als ich ging. Ob das Auto noch dastand oder nicht - das weiß ich beim besten Willen nicht mehr. Ich habe einfach nicht darauf geachtet.«
» Wen haben Sie denn bewußt gesehen, als Sie fortgingen?« fragte Norman.
Sie hatte im Eßzimmer gesessen und in Kevin McGowans Memoiren gestöbert und sich irgendwann erinnert, daß sie eigentlich hatte spazierengehen wollen. Sie war in die Halle getreten …
»Patricia«, sagte sie, »Patricia stand in der Eingangshalle, als ich gehen wollte. Zusammen mit Steve. Das ist der Gärtner, der sich hier manchmal um den Park kümmert.«
»Wie heißt Steve mit Nachnamen?«
Sie wußte es tatsächlich nicht. Sie hatte sich nie darum gekümmert. Steve war einfach Steve.
Norman fand das nicht tragisch. »Das kriege ich heraus. Dieser Steve war also hergekommen, um zu arbeiten?«
»Vermutlich. Ich …« Ihr Blick glitt zum Fenster hinaus, und nun endlich sah sie, was sich verändert hatte. »Der Rasen«, sagte sie, »der Rasen hinter dem Haus ist gemäht. Sicher war Steve deswegen da.«
»Das überprüfen wir. Also, Mrs. Roth und Steve standen in der Halle. Sonst noch jemand?«
Sie schluckte. Das letzte Mal, daß sie ihn lebend gesehen hatte … »Mein Mann«, sagte sie, »er kam die Treppe herunter.«
»Sie sprachen miteinander?«
»Ja. Natürlich.« So natürlich war das gar nicht, dachte sie. Sie hatten die Nacht getrennt verbracht, zum erstenmal seit ihrer
Hochzeit. Sie war nicht sicher gewesen, wie es weitergehen sollte. Sie war entsetzt über ihn gewesen, erschüttert, tief enttäuscht. Es hatte keine Gelegenheit mehr für eine Aussprache gegeben. Nun würde es auch keine mehr geben.
Ich werde weinen. Irgendwann. Aber nicht jetzt. Bloß nicht jetzt.
»Er machte sich Sorgen wegen Ricarda, wußte nicht, was er tun sollte. Ich sagte ihm, sie sei bestimmt bei ihrem Freund -
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