Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
nach der Geschichte vom Vorabend. Er solle sie meiner Meinung nach in Ruhe lassen, also auch gar nicht nach ihr suchen. Sie brauche Zeit.«
»Und dann?« fragte Norman, nachdem Jessica eine Weile geschwiegen hatte.
Er erkannte die Trostlosigkeit in ihren Augen, als sie antwortete: »Dann bin ich gegangen.«
Er hatte feine Antennen. »Sie waren böse auf ihn wegen der Sache mit dem Tagebuch?«
Böse? »Ich glaube eher, ich war erschüttert«, sagte Jessica, »denn etwas von dem Bild, das ich von ihm hatte, war zerbrochen. Ich kam nicht damit zurecht. Ich wollte allein sein.«
»Es hat dann auch keine Klärung mehr gegeben?«
»Nein. Ich ging fort, und als ich wiederkam …« Sie machte eine hilflose Bewegung mit den Armen.
»Sie sind sehr lange gelaufen.« Norman rechnete nach. »Wenn Sie sagen, daß zwischen Ihrer Ankunft am Haus und Ihrem Anruf bei der Polizei etwa eine halbe Stunde lag, dann müßten Sie gegen vierzehn Uhr hier gewesen sein. Das heißt, Sie waren vier Stunden unterwegs.«
»Das ist nicht ungewöhnlich bei mir. Ich laufe jeden Tag viele Kilometer. Heute kam noch dazu … ich war aufgewühlt. Ich wollte nachdenken. Mich beruhigen. Ich bin gelaufen, ohne zu bemerken, wie die Zeit verging.«
»Ich verstehe.« Norman nickte. »Mit wem von den Leuten hier haben Sie heute noch gesprochen? Mit allen?«
»Nein. Nur noch mit Tim. Mr. Burkhard. Frühmorgens.«
»Um wieviel Uhr?«
»Etwa … um kurz nach acht, würde ich sagen.«
»Wo war das?«
»In der Gartentür des Wohnzimmers. Ich kam von einem Spaziergang zurück, und …«
»Sie waren morgens schon einmal unterwegs?«
»Ja, in aller Frühe. Mit meinem Hund. Ich konnte nicht schlafen. «
Norman dachte an seinen Arzt, der ihm immer wieder empfahl, sich mehr zu bewegen, und seufzte. Er haßte es, zu laufen.
»Gut. Sie trafen ihn also. Und?«
»Er war … ein bißchen ärgerlich. Niemand hatte den Tisch gedeckt und das Frühstück vorbereitet. Außerdem erinnere ich mich, daß er irgendwelche Notizen suchte. Nein, eher Texte, die er im Computer geschrieben und dann ausgedruckt hatte. Er ist Psychotherapeut und saß während der ganzen Ferien an den Vorbereitungen zu seiner Promotion.«
»Er machte sich Sorgen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Er maulte jedenfalls herum, aber ich ließ ihn einfach stehen.«
Er musterte sie eindringlich. »Mochten Sie Mr. Burkhard?«
Warum hätte sie lügen sollen?
»Nein«, sagte sie.
»Warum nicht?«
»Ich empfand ihn als zudringlich. Vielleicht war er einfach durch seinen Beruf geschädigt. Er analysierte an mir herum und kam mir damit irgendwie zu nahe. Ich mochte meine Probleme nicht mit ihm besprechen.«
»Haben Sie denn Probleme?«
»Wer hat die nicht?«
»Würden Sie sagen, daß Ihre Ehe in Ordnung war?«
»Ja.«
»Wie war Ihr Verhältnis zu den anderen Personen hier im Haus?«
Sie zögerte. »Wir waren Freunde. Doch manchmal, glaube ich, saßen wir hier ein bißchen zu dicht aufeinander. Es war nicht immer spannungsfrei. Aber insgesamt kamen wir gut miteinander zurecht.«
»War Patricia Roth eine enge Freundin von Ihnen?«
»Nein.«
Das Nein hatte scharf geklungen. Natürlich hakte Norman nach. »Sie mochten sie nicht?«
»Ich fand sie sehr anstrengend. Sie wollte hier immer alles managen und hatte nicht allzuviel Verständnis für Menschen, die eine individuelle Urlaubsgestaltung vorziehen. Daraus resultierten Probleme. Aber ich kann nicht wirklich sagen, daß ich sie nicht gemocht hätte.«
»Hm.« Er sah ziemlich ratlos drein, und eigentlich, dachte Jessica, konnte man ihm das nicht verübeln.
»Haben Sie irgendeine Vorstellung, wer das hier getan haben könnte?« fragte sie nach einigen Momenten des Schweigens.
»Hm«, machte er wieder. Sie hatte das beunruhigende Gefühl, er werde ihr gegenüber nicht ganz offen sein.
»Im Augenblick tappe ich noch ziemlich im dunkeln«, meinte er dann. »Wenn ich ehrlich bin, so war ich in meiner ganzen polizeilichen Laufbahn noch nie mit einem solchen Verbrechen konfrontiert. Ein solches Gemetzel …« Er schüttelte den Kopf.
»Das muß ein Geistesgestörter getan haben«, sagte Jessica, »denn es gibt doch ganz offensichtlich kein Motiv. Es sieht nicht so aus, als ob etwas gestohlen worden wäre. Es ist so sinnlos. Zwei kleine Kinder …«
»Was uns sinnlos erscheint, mag für einen anderen Menschen durchaus Sinn haben«, entgegnete Norman. »Wer immer der Täter war, er - oder sie - hatte ein Motiv.«
»Aber, um Gottes willen,
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