Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
leichtes Kleid an, bürstete ihre nassen Haare. Sie würde sie an der Luft trocknen lassen, der Abend war warm genug. Sie merkte, wie hungrig sie war. Wäre sie allein gewesen, hätte sie sich mal wieder eine Tiefkühlpizza in die Mikrowelle geschoben, aber wenn Leon auch essen wollte, müßte sie am Ende richtig kochen. Sie wunderte sich über ihre Gefühle. Sie hatte Leon im Grunde immer gemocht, aber im Moment wünschte sie ihn auf den Mond.
Er saß auf den Treppenstufen, die von der Terrasse in den Garten führten, und trank einen Whisky. Barney rannte in großen Sprüngen vor ihm auf und ab.
»Vielleicht solltest du erst einmal etwas essen, bevor du weitertrinkst«, sagte Jessica.
Er schwenkte den Whisky, der im Licht der Abendsonne rotgolden glänzte. »Ich habe eigentlich keinen Hunger.«
»Du hast schon neulich nichts gegessen. Und du hast stark abgenommen. Du mußt sorgsamer mit dir umgehen.«
»Ja, ja.« Er klang ein wenig ungeduldig. »Barney ist unheimlich gewachsen, finde ich.«
Sie setzte sich neben ihn auf die Stufe.
»Dir fällt das sicher noch mehr auf als mir. Ich sehe ihn ja jeden Tag.«
»Ich erinnere mich noch, wie du ihn nach Stanbury mitbrachtest. So ein kleines Bündel mit großen Pfoten. Das ist noch gar nicht lange her, gerade erst ungefähr einen Monat. Und doch …«
»… und doch scheint es in einem anderen Leben gewesen zu sein, ich weiß.«
»Ich habe am Freitag den Mietvertrag für meine neue Wohnung unterschrieben. Nächste Woche ziehe ich um. Das wollte ich dir sagen, deshalb bin ich hergekommen.«
»Du hast etwas gefunden! Ist die Wohnung schön?«
Er zuckte mit den Schultern. »Sie ist okay. Ziemlich klein, aber für mich allein reicht sie. Ich werde sowieso wohl nur zum Schlafen da sein. Ich muß arbeiten wie ein Verrückter, damit ich von meinem Schuldenberg herunterkomme.«
»Willst du versuchen, deine Kanzlei wieder in Schwung zu bringen?«
»Ich weiß nicht. Das versuche ich eigentlich schon zu lange, ohne Erfolg. Nein, ich denke, ich werde eher versuchen, wieder in einem großen Büro unterzukommen. Nicht so einfach in meinem Alter, schließlich drängen von den Universitäten jede Menge hochbegabter Nachwuchskräfte hinterher. Aber ich habe keine Familie mehr. Ich kann zunächst gegen eine geringere Bezahlung arbeiten, und das ist vielleicht meine Chance.« Er lächelte traurig. »Mich allein kriege ich immer irgendwie satt. Und meine Bedürfnisse sind minimal - vor allem verglichen mit denen, die Patricia und die Kinder hatten.«
»Du fängst ganz von vorn an. Trotz allem, was passiert ist, birgt das viele Möglichkeiten.«
Er nahm einen tiefen Schluck Whisky. Jessica bemerkte, daß seine Hände leicht zitterten. »Wenn man nur die Erinnerungen loswerden könnte …«
»Sie werden schwächer. Sie werden nie ganz verschwinden, aber sie verblassen ein wenig. Und irgendwann merkt man, daß man mit ihnen leben kann.«
Er drehte sich zu ihr um, lächelte ein wenig. »Du bist so jung. Wie willst du das wissen?«
»Ich weiß es nicht. Ich hoffe es. Es ist die einzige Hoffnung, die mir die Kraft gibt, weiterzumachen.«
Er betrachtete sie einen Moment lang nachdenklich. Dann sagte er unvermittelt: »Ich kann nur einen kleinen Teil unserer Möbel in der neuen Wohnung unterbringen, und verkaufen kann ich auch nicht alles. Ich wollte dich fragen, ob du kommen und dir ein paar Sachen aussuchen möchtest.«
»Ich habe eigentlich alles.«
»Du willst hier in dem Haus bleiben?«
»Das weiß ich noch nicht genau. Alexander und ich hatten ein gemeinsames Testament, wonach das Haus im Todesfall eines Partners an den anderen geht. Erst bei dessen Tod dann an Ricarda - und an das Kind, das ich erwarte. Aber manchmal denke ich …« Sie starrte in den Garten, in dem ganz langsam die Schatten länger wurden. »Manchmal denke ich, ich sollte es Ricarda überschreiben, wenn sie achtzehn ist, also in zwei Jahren, und für mich und das Baby ein ganz neues Leben aufbauen.«
»Ein neues Leben. Das ist nicht so einfach. Ich bin sicher, auf irgendeine Weise werden wir beide immer gebrandmarkt bleiben. Das Böse ist zu tief in unser Leben eingedrungen. Es hat uns gezeichnet. Es ist wie ein Virus, das wir in uns tragen.«
»Ein Virus ist es nicht«, widersprach Jessica, »das Böse steckt nicht an.«
Er warf ihr einen fast verächtlichen Blick zu. »Klar steckt es an. Das Böse ist die größte Seuche, mit der wir es hier auf der Welt zu tun haben. Aber manche Menschen können
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