Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
nicht.«
»Meine Beste, ich hatte die Jungs fünf Wochen lang hier, also werde ich wohl am besten wissen, wie viele Kinder es waren, die mich genervt haben! Dreizehn oder vierzehn Jahre waren sie alt. Schwieriges Alter. Doch ich hätte jeden einzelnen als Sohn bevorzugt gegenüber dem, mit dem ich geschlagen war!«
Jessica konnte es nicht mehr ertragen und stand auf. Wenn Alexanders Kindheit und Jugend aus derartigen Bemerkungen bestanden hatten, wunderte es sie höchstens, daß er nicht noch viel neurotischer gewesen war.
»Ich glaube, ich bin meinem Mann ein Stück näher gekommen«, sagte sie. »Danke, daß Sie Zeit hatten.«
Will versuchte sich aus seinem Sessel zu wuchten, aber Jessica machte eine abwehrende Handbewegung. »Bleiben Sie sitzen! Ich finde zur Tür. Leben Sie wohl!«
Sie wartete nicht länger, sondern eilte zur Haustür, riß sie auf. Sie atmete tief, als sie in die klare, warme Luft trat, von der Sonne und dem Blütenduft des herrlichen Maitages empfangen wurde. So freundlich das Anwesen wirkte, so beklemmend war die Atmosphäre drinnen mit dem alten, zynischen Mann, der mit soviel unversöhnlicher Abneigung über seinen Sohn herzog. Dennoch war sie froh, hergekommen zu sein. Sie begriff Dinge, die sie zuvor nicht hatte nachvollziehen können. Sie begriff etwas von seiner Schwäche, von seiner Ängstlichkeit, die es ihm unmöglich gemacht hatte, sich gegen die Gruppe seiner Freunde zu stellen. Seine Unfähigkeit, den Weg der Anpassung zu verlassen. Ganz gleich, was er noch hätte tun können in seinem Leben - dieser Vater reichte aus, alles zu entschuldigen.
Als sie im Auto saß und auf die Autobahn Richtung München bog, kamen ihr auch Wills Worte über Elena in den Sinn.
Wirklich geliebt hat mein Sohn nur Elena!
»Alte Giftspritze«, sagte sie laut, »woher will er das so genau wissen?«
Sie beschloß, ihn in diesem Punkt nicht ernst zu nehmen, aber sie spürte genau, daß der Stachel tief saß und daß er nicht mehr verschwinden würde.
Es war nach sieben Uhr, als sie daheim ankam. Sie hatte in mehreren Staus gestanden, da der Sonntagnachmittag die Wochenendausflügler von Seen und Bergen zurück in die Stadt schwemmte, und streckenweise hatte sich gar nichts mehr bewegt. Jessica machte sich Sorgen um Barney, der schon so lange allein daheim aushalten mußte. Sie war müde, frustriert und verschwitzt. Sie sehnte sich nach einem entspannenden warmen Bad.
In ihrer Auffahrt stand ein Auto, und als sie dahinter bremste, öffnete sich die Fahrertür. Zu ihrer Überraschung stieg Leon aus. Er hatte früher einen anderen Wagen gefahren. Dieses Auto nun war klein und offenbar schon einige Jahre alt. Er schien ernsthaft dabeizusein, seinen Lebensstil auf allen Ebenen zu reduzieren.
»Da bist du ja endlich«, sagte er. Es klang vorwurfsvoll. »Ich sitze hier seit halb vier!«
»Meine Güte, wie konntest du nur so lange warten? Ich war am Chiemsee.«
»Am Chiemsee?«
»Ich habe Alexanders Vater besucht. Ich hatte dir doch erzählt, daß ich das vorhabe.« Sie schloß die Haustür auf. Barney stürmte heraus und sprang wie ein Gummiball auf der Treppe herum. »Willst du mit hineinkommen?«
Sie war zu müde, um sich über sein Erscheinen zu freuen, aber nachdem er fast vier Stunden auf sie gewartet hatte, konnte sie ihn schlecht wegschicken. Er trat dicht hinter ihr ins Haus und hauchte ihr zur Begrüßung einen Kuß auf die Wange. Er roch stark nach Alkohol und war unrasiert, genau wie in der vergangenen Woche im Restaurant.
»Alle Achtung«, sagte sie verblüfft, »du hast ganz gut getankt!«
»Getankt?«
»Du hast eine ziemliche Fahne.«
»Ich habe zum Mittagessen was getrunken. Und dann hatte ich noch einen Flachmann im Auto. Irgenwie mußte ich mir ja die Zeit vertreiben.«
Sie merkte, daß er sich bemühte, deutlich zu sprechen, daß aber die Endungen seiner Worte leicht verwischten. Er sah erbärmlich schlecht aus.
»Setz dich doch auf die Terrasse«, sagte sie. »Ich muß schnell duschen und mich umziehen. Ich bin ziemlich fertig. Du kennst dich ja aus.«
»Alles klar«, sagte er und verschwand in Richtung Wohnzimmer. Sie hörte, wie er die Gartentür öffnete. Barney folgte ihm schwanzwedelnd.
Der hat mir jetzt wirklich noch gefehlt, dachte sie erschöpft.
Da sie ein langes, regenerierendes Dahindämmern in der Badewanne nun vergessen konnte, duschte sie nur rasch und merkte, wie sich auch dabei schon ihre Glieder ein wenig entspannten. Sie trocknete sich ab, zog ein
Weitere Kostenlose Bücher