Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
auf der Straße stand, und sie hatte noch nicht gefrühstückt. Zum Glück hatte sich ihre Schwangerschaftsübelkeit inzwischen völlig verabschiedet, so daß sie auch in einem öffentlichen Café nicht mit unangenehmen Zwischenfällen rechnen mußte. Der Tag war sonnig und bereits sehr warm, und sie fand schnell ein kleines Bistro, das Tische und Stühle draußen auf dem Bürgersteig aufgestellt hatte. Sie setzte sich, bestellte Kaffee und Croissants, lehnte sich zurück und schloß die Augen. Die Sonne schien ihr direkt aufs Gesicht, auf Hals und Bauch. Sie kam sich vor wie eine Katze, die auf einer warmen Mauer liegt.
Sie überlegte, wie es weitergehen sollte.
Irgendwann mußte sie wieder arbeiten. Sie hatte sich ihre Praxis mühsam aufgebaut. Sie hatte ihren Beruf immer geliebt, zudem war er ihre Existenzgrundlage. Es dauerte lange, sich als Anfänger einen Patientenstamm zu schaffen, aber es ging sehr schnell, ihn zu verlieren. Wenn sie noch den ganzen Sommer herumtrödelte, wäre niemand mehr da. Zumal sie vermutlich spätestens ab Ende September wegen des Babys wiederum eine Zeitlang würde aussetzen müssen. Vielleicht konnte sie für diese Phase eine Vertretung organisieren.
Sie mußte auch endlich die Frage klären, ob sie in Alexanders Haus bleiben wollte. Es gab ihr zu denken, daß es für sie immer Alexanders Haus gewesen war, nicht unser Haus . Wenn dieses Gefühl anhielt, würde sie sich dort vielleicht stets als Gast empfinden, als Gast eines Toten. Sie hatte Leon geraten, den Neuanfang als Chance zu begreifen. Vielleicht brauchte sie auch einen Neuanfang.
»Ihr Frühstück«, sagte eine Stimme, und sie zuckte zusammen und öffnete die Augen. Ein junges Mädchen stellte eine Tasse Kaffee, einen Teller und ein Körbchen mit zwei Croissants vor sie hin.
»Ist das nicht ein herrlicher Mai?« fragte sie.
»Wunderschön«, stimmte Jessica zu. Sie empfand es nicht so, aber was hätte sie sagen sollen? Wen interessierte es schon, wie es ihr tatsächlich ging?
Kein Selbstmitleid, warnte sie sich, das macht alles nur schlimmer.
Während sie vorsichtig die ersten Schlucke des sehr heißen Kaffees trank, dachte sie, daß sie kaum mehr etwas für Evelin tun konnte. Dr. Wilbert, der einzige Mensch, der vielleicht wirklich interessante Informationen besaß, würde aus Angst um seine Zulassung nichts sagen. Womöglich hätte sich jedoch auch aus seinem Wissen nichts ergeben, was Evelin von jeglichem Verdacht reingewaschen hätte, sonst hätte er es doch gesagt, um ihr zu helfen.
Vielleicht, dachte Jessica, wird er sie aber jetzt auch zu kontaktieren versuchen und sie fragen, ob er Auskünfte geben darf. In diesem Fall höre ich dann sicher von ihm.
Ich muß an mein eigenes Leben denken.
Vielleicht hatte Wilbert recht. Vielleicht mußte sie die Geschehnisse dringend aufarbeiten.
Ich drücke mich davor, indem ich mich für Evelin engagiere.
Sie war überzeugt von Evelins Unschuld. Sie war sicher, daß das Verbrechen von einem Außenstehenden begangen worden war.
Warum vertraue ich nicht darauf, daß die Beamten in England das schon herausfinden werden? Die sind nicht blöd. Evelin wird freikommen, und zwar auch ohne mein Zutun.
Sie sollte loslassen. Sich nicht weiter als Amateurdetektivin betätigen. Was kam schon dabei heraus? Als einzig echte neue Erkenntnis hatte sie nur die Aussage des alten Will, Alexander habe sie nie geliebt.
Phantastisch. Mit der Möglichkeit, daß er die Wahrheit gesagt hatte, mußte sie nun leben. Sie war keinen Schritt weiter, was Evelin betraf, dafür war sie verunsichert, was ihren toten Mann anging.
Na ja, sie verstand ihn im nachhinein besser. Aber es war die Frage, ob es so wichtig war, alles und jeden zu verstehen. Vielleicht versuchte sie auch nur, Alexander zu verstehen, Evelin und die Freunde zu verstehen, weil sie nicht mit der Notwendigkeit konfrontiert werden wollte, plötzlich sich selbst verstehen zu müssen.
Ihr Hunger war auf einmal wie weggeblasen, was ihr verriet, wieviel Anspannung diese Gedanken in ihr auslösten. Sie schob den Korb mit den Croissants von sich weg, als könnte sie mit dieser Bewegung auch die belastenden Vorstellungen auf Distanz zu sich bringen. Sie würde ihren Energien jetzt eine andere Richtung geben. Es war Dienstag. Was sprach dagegen, daß sie am kommenden Montag ihre Praxis wieder eröffnete? Irgendwann vorher mußte sie noch Leon besuchen, das hatte sie ihm versprochen. Seine neue Wohnung ansehen, ihm Mut machen. Ohne daß
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