Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
sie das gewollt hätte, fiel ihr der vergangene Sonntag ein, als er bis spätabends auf ihren Verandastufen gesessen und sich betrunken hatte. Irgendwann hatte sie ihm ein Taxi gerufen, denn er hätte nicht mehr selbst fahren können. Sein Auto mußte er in aller Heimlichkeit am nächsten Morgen abgeholt haben, während sie noch schlief, denn als sie gegen neun Uhr das Haus verlassen hatte, um Barney spazierenzuführen, war es verschwunden gewesen. Sie erinnerte sich, daß sie ihn nach dem vierten Freund im Kreis der einstigen Internatsschüler gefragt hatte.
»Ach, du meinst Marc«, hatte er gesagt. »Liebe Güte, an den habe ich schon ewig nicht mehr gedacht! Marc! Er war nicht lange mit uns zusammen. Er blieb sitzen in der achten Klasse, und dann sogar noch ein zweites Mal, und damit mußte er die Schule verlassen. Wir haben nie mehr von ihm gehört.«
Eigentlich eine normale, vernünftige Erklärung, die nicht weit hergeholt klang. Trotzdem hatte sie, noch ehe Leon überhaupt zu sprechen begonnen hatte, das sichere Gefühl gehabt, nicht die Wahrheit zu hören zu bekommen. Sie blinzelte in das helle Sonnenlicht und fragte sich, woran das gelegen haben mochte. Vielleicht hatte sie sich etwas eingebildet. Sie war sehr müde gewesen, seelisch tief erschöpft von der unangenehmen Begegnung mit Alexanders Vater. Man sah leicht Gespenster, wenn man völlig zerschlagen war.
Aber da war etwas in seinen Augen gewesen. Nur einen Moment lang. Ein unkontrollierter Ausdruck des Entsetzens, des Schreckens. Als rühre sie an etwas, woran sie unter keinen Umständen hätte rühren dürfen.
Verdammt. Ich hatte gerade beschlossen, über diese Dinge nicht mehr nachzudenken!
Sie kramte ihr Portemonnaie hervor, legte das Geld für ihr Frühstück auf den Tisch. Stand entschlossen auf.
Sie würde jetzt Barney holen und ihn mit in die Praxis nehmen. Und dort beginnen, den Papierberg, der sich in den vergangenen Wochen ohne Zweifel angesammelt hatte, zu bearbeiten.
Wenn sie am nächsten Montag wieder anfangen wollte, hatte sie jede Menge Arbeit.
Viel zuviel Arbeit, um über die Vergangenheit nachzugrübeln.
9
»Nein«, sagte Phillip, »mit absoluter Sicherheit: nein! Hast du wirklich einen Moment lang geglaubt, ich könnte hier leben?«
Sie waren in einem Pub am Ufer der Themse. Der Abend war warm, und man konnte draußen an breiten Holztischen sitzen. Zu dieser ziemlich frühen Stunde hatten sich noch nicht allzu viele Menschen eingefunden, aber langsam, nach und nach, kamen sie heran. Geschäftsleute in dunklen Anzügen oder junge Familien mit Kinderwagen und Hunden im Schlepptau. Ein weicher Wind trieb den Salz- und Algengeruch des Meeres heran. Die Atmosphäre war sanft und anheimelnd. Geraldine hätte sich darin wiegen können, aber Phillip saß ihr gegenüber wie ein dunkler, steinerner Klotz, angespannt und unbehaglich. Geraldine hatte für beide Fish and Chips und dunkles Bier geholt, aber Phillip rührte sein Essen nicht an, nippte nur gelegentlich an dem Bier. Er sah aus, als würde er am liebsten davonlaufen und könne sich nur mit äußerster Disziplin beherrschen.
»Was stört dich so sehr?« fragte Geraldine. »Die Vorortatmosphäre? «
»Es ist eng. Es ist spießig. Es ist so … adrett.«
»Es ist zumindest weniger eng als deine Wohnung.«
»Kann sein. Dafür ist meine Wohnung jedenfalls weit davon entfernt, spießig oder adrett zu sein.«
Sie hatte sich ein paar Chips in den Mund schieben wollen, ließ aber ihre Hand wieder sinken. »Was willst du?« fragte sie erschöpft.
»Das weißt du.«
»Oh … nein!« Sie lehnte sich zurück. »Fang nicht wieder mit …«
»Wenn du es nicht hören willst, dann frag mich nicht«, sagte Phillip. »Ich will Stanbury. Und solange ich nicht jede Möglichkeit ausgeschöpft habe, es zu bekommen, ziehe ich bestimmt
nicht in einen Vorort mit kleinen Häusern und Stiefmütterchenbeeten. Ich passe dort nicht hin. Ich bin das nicht! «
»Du bist auch nicht Stanbury! Du bist nur völlig verrannt in eine fixe Idee!«
Er sprach mit leiser Stimme, aber seine Augen verrieten, wie zornig er war. »Ein für allemal, Geraldine«, sagte er langsam und betont, »das geht dich nichts an! Nichts, was in meinem Leben geschieht, geht dich etwas an. Ich gehe meinen Weg. Aus für mich unerfindlichen Gründen bist du wild entschlossen, neben mir herzugehen, obwohl das, wie ich dir versichern kann, zu nichts führen wird. Du wirfst mir vor, in etwas verrannt zu sein? Wie sieht es denn
Weitere Kostenlose Bücher