Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Titel: Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
sich ihr gegenüber. Er war ein großer Mann, grauhaarig und vertraueneinflößend. Jessica schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Sie konnte sich gut vorstellen, daß sich Evelin in seiner Nähe sehr aufgehoben gefühlt hatte. Er lud dazu ein, sich auszusprechen, und strahlte das Selbstvertrauen aus, mit seiner Hilfe Probleme in den Griff zu bekommen.
    Sie fühlte sich Evelin auf einmal sehr nahe. Hierher war sie jede Woche gekommen. Hier lag ohne Zweifel einer ihrer Lebensmittelpunkte. Hier hatte sie Hilfe gesucht und wahrscheinlich auch bekommen, hier hatte sie Hoffnung geschöpft. Von allem erzählt, was sie bedrückte: von ihrer Sehnsucht nach einem Kind, von dem Kummer über ihren dicken Körper, von der Eintönigkeit ihres Lebens. Von einer Ehe, die die Hölle war?
    »Dr. Wilbert, ich weiß, daß ich Sie in eine schwierige Lage bringe«, fing Jessica ohne Umschweife an, »aber Evelin sitzt in England unter Mordverdacht in Untersuchungshaft, und ich habe den Eindruck, daß ich ihr irgendwie helfen muß. Sie wissen, was geschehen ist?«
    Er nickte. »In groben Zügen. Ich habe von dem schrecklichen … Massenmord in der Zeitung gelesen, aber da waren zunächst keine Namen erwähnt. Evelin - ich nenne sie immer beim Vornamen - hatte mir natürlich schon oft von Stanbury und dem Ferienhaus erzählt, von der Freundesgruppe, die sich dort regelmäßig traf. Deshalb wurde ich äußerst unruhig, als ich den Namen des Ortes las und von den Deutschen, die dort jedes Jahr mehrfach Urlaub machten. Aber Sie wissen sicher, wie das ist,
man glaubt immer nicht, daß solche Dinge in das eigene Leben hineinspielen können. Ich schob diese Möglichkeit immer wieder von mir. Dann erschien Evelin nicht zum vereinbarten Termin im April, und ich begann mir größte Sorgen zu machen. Na ja, und dann, drei oder vier Tage nach jenem ausgefallenen Termin, erhielt sie die Erlaubnis, mich telefonisch zu kontaktieren. Sie erzählte mir alles, unter Tränen und in denkbar wirrer Form. Aber soviel begriff ich: Sie war unter dem Verdacht, fünf Menschen ermordet zu haben, festgenommen worden. Sie können sich vorstellen, daß ich seither ständig an sie denke.«
    Jessica empfand seine offensichtliche Anteilnahme als sehr sympathisch. Evelin war für ihn nicht einfach nur irgendein Fall, ein Teil seines Berufs, dem er zuverlässig nachging, weil er sein Geld mit ihm verdiente. Er nahm Anteil über die vier Wände seiner Praxis hinaus. Evelins Schicksal schien ihm aufrichtig am Herzen zu liegen.
    »Sie lassen sie nicht raus, wegen Fluchtgefahr«, erklärte sie.
    »Hm. Natürlich, sie ist Ausländerin. Sagen Sie«, er lehnte sich vor, »Sie gehören zu jener … Clique?«
    Sie fragte sich kurz, was Evelin über die Clique erzählt haben mochte.
    Womöglich hatte Wilbert den Eindruck gewonnen, daß es sich um einen Haufen Neurotiker handelte.
    »Ja, ich gehöre dazu. Gehörte , muß man wohl eher sagen. Zwei Kinder und drei Erwachsene sind tot. Darunter mein Mann.«
    »Das tut mir sehr leid.«
    »Danke.« Sie sah zur Seite. In dem Moment, da ihm ihre persönliche Tragik aufging, hatte er, wahrscheinlich unwillkürlich, einen Therapeutenblick bekommen, und den hatte sie schon bei Tim nicht ertragen.
    »Ich möchte Evelin helfen«, sagte sie dann. »Und, gerade auch wegen meines Mannes, möchte ich, daß der wahre Täter hinter Gitter kommt.«

    »Sie sind überzeugt von Evelins Unschuld?«
    »Ja.«
    Er nickte langsam. »Was mich interessiert«, sagte er, »und was aus Evelin am Telefon einfach nicht herauszubringen war: Weshalb hat man gerade sie verhaftet? Warum hält man sie für die Täterin?«
    »Sie war als einzige Überlebende anwesend. Wir anderen waren fort - wobei aber keiner von uns dafür einen Zeugen hat. Auf der Tatwaffe befanden sich ihre Fingerabdrücke. Ihre Kleidung war voller Blut von den Toten. Sie hatte sie gefunden, sich über sie gebeugt und sie wiederzubeleben versucht. Aber es war auch das Blut … meines Mannes und das eines kleinen Mädchens dabei. Beide hat sie aber angeblich nicht gefunden.«
    »Wie erklärt sie das?«
    »Evelin stand völlig unter Schock.« Jessica berichtete kurz, wie und wo sie Evelin nach dem grausigen Geschehen angetroffen hatte. »Ich bin kein Psychologe, aber nach meiner Ansicht muß man alles, was sie in den Stunden und sogar Tagen nach dem Verbrechen gesagt hat, unter Vorbehalt sehen. Wenn sie in der Aufzählung der Opfer Personen vergißt, obwohl sie offensichtlich mit ihnen in Berührung gekommen

Weitere Kostenlose Bücher