Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Titel: Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
können. Über dem flachen Dach erhob sich der Himmel in leuchtendem Blau, was dem lieblosen Betonbau ein klein wenig Charme verlieh. Schlechtes Wetter mußte die Anlage in vollkommene Trostlosigkeit tauchen.
    Aber vielleicht ist es genau das, was Leon jetzt braucht, dachte
Jessica, dieses Eintauchen in die Anonymität, diese Reduzierung des Wohnorts auf einen Platz zum Schlafen, von dem man im Grunde nicht mehr erwartet als ein Dach über dem Kopf. Das Leben an einen Nullpunkt bringen, um von vorne anfangen zu können.
    Es war halb sieben am Abend, die Luft weich, das Licht hell. Jessica wäre lieber daheim im eigenen Garten geblieben, nachdem sie den ganzen Tag in ihrer Praxis gesessen und stapelweise Post durchgesehen und bearbeitet hatte. Aber sie hatte Leon versprochen, seine Wohnung anzusehen, und es hatte keinen Sinn, dies ewig vor sich herzuschieben. Vorsichtshalber hatte sie Barney daheim gelassen. So konnte sie nach einer gewissen Zeit behaupten, sie müsse nach Hause, um den Hund ins Freie zu lassen.
    Leons Stimme klang durch die Sprechanlage, kaum daß Jessica geklingelt hatte. Ob er neben seiner Wohnungstür gewartet hatte, fragte sie sich. Er war einsam. Er hatte drei Menschen verloren.
    »Ich bin im vierten Stock«, sagte er, »nimm den Aufzug!«
    Er stand im Flur, als sie oben ausstieg. Er hatte sich endlich einmal rasiert und war offenbar sogar beim Friseur gewesen. Er trug Jeans, dazu ein weißes T-Shirt, weiße Leinenschuhe. Er schien nichts getrunken zu haben und sah so gut aus, daß Jessica sofort dachte: Er bleibt nicht lang allein. Die Frauen werden ihm die Tür einrennen, und wenn er die Trauerzeit hinter sich hat, wird es jemanden für ihn geben.
    Er zog sie an sich und sagte, wie sehr er sich freue, sie zu sehen. Er schien aufrichtig glücklich, und sie schämte sich plötzlich, daß sie so widerwillig zu dieser Verabredung gegangen war.
    Er war neben Tim Alexanders bester Freund, dachte sie. Alexander würde erwarten, daß ich mich um ihn kümmere.
    Er zog sie in die Wohnung, und sie gab ihm die Flasche Wein, die sie für ihn daheim aus dem Keller geholt hatte. »Nicht sehr originell, ich weiß. Aber ich war den ganzen Tag in der Praxis, und es blieb dann keine Zeit mehr, um …«

    »Ich freue mich über den Wein. Ich freue mich vor allem, daß du da bist. Du arbeitest wieder? Ich finde, da tust du genau das Richtige!« Er holte tief Luft. »Also, das hier ist mein neues Reich!«
    Die Wohnung sah so aus, wie vermutlich alle Zwei-Zimmer-Wohnungen in dem Haus aussahen, mit der Ausnahme, daß sich hier noch eine Menge unausgepackter Kisten stapelten. Es gab ein Wohnzimmer mit einer durch eine kleine Theke abgetrennten Küche und ein winziges, recht dunkles Nebenzimmer, dessen Fenster nach Norden ging und das gerade eben Platz für ein Bett und einen Schrank bot.
    »Hier schlafe ich«, erklärte Leon, »und, na ja, im Rest wohne ich.«
    Er hatte sich wirklich von nahezu allen alten Möbeln verabschiedet. Im Wohnzimmer standen ein neuer Ikea-Tisch mit passenden Stühlen (»Unser großer Eßtisch hätte das Zimmer ja fast völlig ausgefüllt«, sagte Leon) und in der Ecke zwei Sessel aus der früheren Sitzgarnitur, zwischen ihnen ein kleiner Teetisch, von dem sich Jessica erinnerte, daß er im alten Haus seinen Platz in Patricias sorgfältig gestyltem Wintergarten gehabt hatte. Sie erkannte die Stehlampe, zwei Blumenbilder an den Wänden und eine Vase im Fenster. Auf der Küchentheke standen ein paar Figuren aus bunter Knete, die wohl Diane und Sophie in Kindertagen gebastelt hatten. Eigentlich erinnerten nur sie daran, daß es im Leben dieses Mannes einmal eine Familie gegeben hatte.
    Gleich neben der Theke führte eine Tür hinaus auf den Balkon. Hier standen ein weißlackierter Bistrotisch und zwei Gartenstühle, und aus einem Blumentopf kroch ein undefinierbares grünes Gewächs an der Betonmauer hinauf. Es lag keine Abendsonne auf dem Balkon, aber man hatte einen schönen Blick auf die Stadt, und man roch den warmen Wind des Frühsommers.
    »Südosten«, sagte Leon, »ein bißchen Sonne habe ich am Tag. Aber ich bin ja ohnehin kaum daheim. Setz dich doch. Wie wäre es mit einem Glas Champagner?«

    Er brachte Gläser und eine eiskalte Flasche.
    »Es gibt etwas, worauf wir anstoßen können«, sagte er. »Ich habe eine Anstellung in einer Kanzlei gefunden. Ich kann am ersten August dort anfangen. Das heißt, ich werde endlich wieder Geld verdienen.«
    »Wie schön für dich«, sagte Jessica,

Weitere Kostenlose Bücher