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Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Titel: Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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gewissen Verehrung reagiert. Und darum ging es ihm. Nicht darum, anderen wirklich zu helfen.«

    Genauso hatte Jessica ihn auch empfunden. Sie verstand genau, wovon Dr. Wilbert sprach.
    Sie seufzte, weil sie begriff, daß Dr. Wilbert sie nicht wirklich weiterbringen würde. Was immer er von Evelin wußte, er durfte es ihr nicht sagen. Seine Augen blickten so undurchdringlich drein, daß sie nichts von dem hätte erahnen können, was hinter seiner Stirn vor sich ging. Lediglich seine Frage, ob Tim unter den Opfern sei, schien ihr einen Anhaltspunkt zu ergeben. Zudem hatte er sich über Tim sehr negativ geäußert.
    Vielleicht hat er damit meine Frage beantwortet, überlegte sie.
    Sie stand auf, strich unwillkürlich mit der rechten Hand über ihren kaum merklich gewölbten Bauch. Wer nichts von dem Baby wußte, sah nichts, aber Dr. Wilbert, der sich ebenfalls erhoben hatte und mit dem Blick unwillkürlich ihrer Hand gefolgt war, schien zu verstehen. Er sah sie sehr nachdenklich an.
    »Sie haben ein überaus traumatisches Erlebnis hinter sich«, sagte er, »und sprechen mit sehr viel Abstand und erstaunlich wenig Emotion darüber. Verdrängen Sie Ihren Schmerz nicht zu sehr. Das ist für Sie nicht gut - und für Ihr Kind auch nicht.«
    Sie wußte selbst nicht, warum sie sich ihm plötzlich ein Stück weit öffnete. »Ich kann nicht weinen«, sagte sie. »Seitdem es passiert ist, habe ich nicht ein einziges Mal weinen können. Selbst bei der Beerdigung meines Mannes ist es mir nicht gelungen.«
    »Würden Sie gern weinen?«
    »Ich weiß nicht … Vielleicht denke ich auch nur, daß es dazugehört. «
    »Haben Sie mal überlegt, sich in die Hände eines Fachmanns zu begeben? Das Ganze therapeutisch aufzuarbeiten?«
    Sie lächelte unwillkürlich, und rasch hob er abwehrend die Hände. »Ich habe mehr als genug Patienten! Ich dachte nicht an mich. Es gibt Kollegen, die sind darauf spezialisiert, Verbrechensopfern zu helfen.«
    »Ich …«
    Er unterbrach sie, offensichtlich genau wissend, was sie hatte
sagen wollen. »Sie sind ein Verbrechensopfer. Daran ändert die Tatsache, daß Sie mit dem Leben und körperlich unversehrt davongekommen sind, gar nichts. Menschen in Ihrer unmittelbaren Nähe ist auf brutalste Weise Gewalt angetan worden, darunter auch Ihrem Mann. Damit ist etwas in Ihr Leben eingedrungen, das Sie nicht unterschätzen sollten. Es hat Sie verändert. Es wird Sie weiter verändern. Sie müssen sich dem stellen. «
    Ihr kam eine Phrase in den Sinn, die sie für abgedroschen hielt, die ihr aber richtig erschien. »Alles«, sagte sie, »hat seine Zeit.«
    »Wir müssen aber die richtige Zeit erkennen«, sagte Wilbert nachdrücklich.
    Sie streckte ihm die Hand hin. »Danke, daß ich zu Ihnen kommen durfte.«
    »Ich habe Ihnen leider nicht wirklich helfen können.« Er sah sie bekümmert an. »Und Evelin auch nicht. Welch eine grausame Entwicklung Dinge manchmal nehmen …«
    Wahrscheinlich, dachte Jessica, wäre es ihm lieber gewesen, es hätte mich oder Leon erwischt. Einer von uns beiden säße im Untersuchungsgefängnis und müßte darum kämpfen, seine Unschuld zu beweisen. Ausgerechnet Evelin, auf die sich ohnehin schon soviel Unheil im Leben konzentriert hat. Aber geht es so nicht immer? Zieht nicht stets Unglück weiteres Unglück an?
    »Ich möchte Sie dringend bitten, mich über alles, was Evelin betrifft, auf dem laufenden zu halten«, bat er, »wirklich alles.«
    »Wenn sie entlassen wird, dann …«
    »… dann möchte ich bereitstehen. Sie haben ja meine Telefonnummer. «
    »Ja. Und ich werde Ihnen selbstverständlich Bescheid geben. Sie meinen, wenn sie entlassen wird, braucht sie sofort therapeutische Hilfe?«
    Er holte tief Luft, sagte aber nichts, doch Jessica ahnte, was er dachte: daß sie alle, alle Überlebenden, diese Hilfe dringend bräuchten.

    Sie kramte in ihrer Handtasche, zog ihre Visitenkarte hervor und reichte sie ihm.
    »Hier haben Sie alle Nummern, unter denen ich erreichbar bin. Zu Hause, Praxis, Handy. Wenn Ihnen etwas einfällt, das Sie mir sagen wollen, sagen dürfen , dann rufen Sie mich bitte an, ja?«
    »Das tue ich.« Er begleitete sie durch das Wartezimmer, öffnete ihr die Wohnungstür. Im Hinausgehen drehte sie sich noch mal zu ihm um.
    »Dr. Wilbert, bitte, sagen Sie mir: Halten Sie Evelin eines solchen Verbrechens für fähig?«
    »Ich halte jeden Menschen eines jeden Verbrechens für fähig«, antwortete Wilbert ausweichend.
     
    Es war halb zehn, als Jessica wieder

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