Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
Zudem sehr echt, sehr authentisch. Nicht so blasiert und zickig wie andere Mädchen. Und er fand sie außerordentlich attraktiv.
»Keith, ich bin es, Ricarda«, hatte sie gesagt, und er war erst einmal verstummt, so daß sie nach ein paar Sekunden nachgehakt hatte: »Keith? Bist du noch da?«
»Ja«, hatte er schließlich herausgebracht, »ja, klar bin ich noch da.«
»Ich habe es ein paarmal auf deinem Handy versucht. Aber du hast es offenbar nie angeschaltet.«
»Na ja, ich bin jetzt immer auf dem Hof. Da bin ich ja über den normalen Apparat erreichbar.«
»Und die Mailbox hast du auch nie abgehört, oder?«
»Nein.« Er hatte sich gefangen. »Ricarda, es ist wirklich schön, deine Stimme zu hören. Wie geht es dir?« Die Frage war mehr gewesen als eine Höflichkeitsfloskel, dennoch hatte er erwartet, daß sie das übliche »Gut. Alles okay« darauf antworten würde.
Statt dessen sagte sie: »Mir geht es gar nicht gut. Überhaupt nicht. Ich vermisse dich sehr, und es ist nichts mehr, wie es war. Ich finde nicht in das alte Leben zurück.«
»Nun ja, es ist etwas Schreckliches geschehen, und es wird Zeit brauchen, bis du …«
Sie hatte ihn unterbrochen. »Ich meine uns . Wegen uns finde ich nicht zurück.«
An das Verbrechen wollte sie offenbar nicht einmal denken. Für sie schien es gar nicht stattgefunden zu haben.
Kann man so tief verdrängen? fragte er sich.
»Es ist alles anders«, fuhr sie fort. »Vor den Osterferien, weißt du, da war ich ein Kind. Jetzt nicht mehr.«
»Du bist fünfzehn«, hatte er sie erinnert.
»Fast sechzehn. In zwei Wochen werde ich sechzehn.«
»Das ist auch noch sehr jung.«
Sie hatte einen Moment geschwiegen. »Du fandest es nicht zu jung, als wir uns zusammen in London ein neues Leben aufbauen wollten.«
»Nein, weil damals …«
»Was?« fragte sie, als er innehielt. »Was war damals?«
Er wußte es auch nicht. Es war eben anders gewesen. Vielleicht hing es mit dem Verbrechen zusammen. Als sie gemeinsam nach
London aufgebrochen waren, war sie ein junges Mädchen mit einigen Problemen gewesen, aber diese Probleme hatten sich innerhalb eines Rahmens bewegt, den Keith als normal empfand. In der Zwischenzeit aber war etwas Unfaßbares geschehen. Etwas, das Keith mit einer bislang ungekannten Angst erfüllte.
»Du wirst auf dem Hof bleiben?« fragte Ricarda schließlich.
Er war erleichtert, daß sie es von sich aus ansprach. »Ja. Verstehst du, irgendwie hing alles mit meinem Vater zusammen. Daß ich unbedingt weg wollte und so. Jetzt … gehört mir der Hof. Mein Vater ist völlig außer Gefecht. Er ist am Leben, aber auf dem geistigen Stand eines Kleinkindes. Ich bin mein eigener Herr. Und ich … ich fühle mich verpflichtet, dieses Erbe … Generationen meiner Familie haben hier gelebt und gearbeitet. Ich möchte den Faden nicht abreißen lassen.«
Ihre Stimme hatte auf einmal sehr warm geklungen. »Das verstehe ich. Das verstehe ich sehr gut.«
Es war diese Wärme gewesen, die ihn wieder mit dem Gefühl der Geborgenheit erfüllte, das er immer in ihrer Gegenwart verspürt hatte. Es war das, was er stets als ihre Echtheit empfunden hatte. Diese Wärme.
Er stellte sich das Gesicht seiner Mutter vor, wenn er ihr dieses sechzehnjährige deutsche Mädchen präsentierte, das in seinem Leben noch keine Kuh gemolken, kein Schaf geschoren, kein Brot gebacken hatte. Das aber dafür zu den Leuten von Stanbury House gehörte. Das Verbrechen hielt die Gegend nach wie vor in Atem, vor allem da man wußte, daß nur hauchdünne Indizien für die Frau, die man festgenommen hatte, sprachen. Der Fall galt als ungeklärt, und niemand wollte wirklich etwas damit zu tun haben. Mum würde ihn für verrückt erklären.
»Wenn du sechzehn bist, können wir heiraten«, hatte er gesagt.
Nun wühlte er in seiner Hosentasche herum, fand ein Feuerzeug und eine zerdrückte Zigarette, zündete sie an und inhalierte
tief. Er hatte einen großen Schritt getan. Er hoffte, daß es der richtige war.
Er hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich um. Gloria erschien in der Tür. Die schwere Krankheit ihres Mannes ließ sie noch verhärmter aussehen, und irgendwie schien sie kleiner geworden zu sein. Es mochte daran liegen, daß sie ihre Schultern so weit nach vorn zog.
»Wer hat gerade angerufen?« fragte sie und hüstelte dann demonstrativ, um ihm zu zeigen, was sie von seinem Hang zu Zigaretten hielt.
»Eine alte Bekannte«, sagte Keith.
»Kenne ich sie?« fragte Gloria
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