Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
flüsterte Jessica.
»Tja«, sagte Leon.
Sie schaute ihn nicht an, weil sie fürchtete, er könnte in ihren Augen die Gedanken lesen, die ihr durch den Kopf schossen. Das Mißtrauen, das seit Tagen - oder schon seit Wochen, genau hätte sie das nicht mehr zu sagen gewußt - in ihr keimte, züngelte hoch wie ein Feuer, dem frischer Sauerstoff zugeführt wird. Es war immer die alte Frage: Wie verzweifelt war Leon gewesen in seiner Ehe? Wie hoffnungslos war ihm die Situation erschienen?
Und nun noch eine weitere Frage dazu: Wie heftig hatte er sich verliebt in die Frau seines Freundes? Wie tief hatte er sich in die Idee hineingesteigert, an ihrer Seite sein Leben zu retten, das ihm vielleicht schon verloren schien?
Hatte dies alles zusammen zu der Vorstellung führen können, der gemeinsame Weg werde nur offen sein, wenn es Patricia und Alexander nicht mehr gab? Konnte er so weit durchgedreht sein, daß er auch das Leben seiner beiden kleinen Mädchen auslöschte? Und das von Tim noch dazu, weil er Schulden bei ihm hatte, die er kaum je hätte zurückzahlen können? Dann hätte Evelin einfach nur Glück gehabt, denn da sie in die Ansprüche ihres toten Mannes eintreten würde, wäre auch sie für Leon nur tot von Nutzen gewesen. Es sei denn, es gelang, ihr das Verbrechen in die Schuhe zu schieben. Aber das hatte Leon nicht versucht. Für ihn war immer Phillip der Schuldige gewesen, und von dieser Ansicht war er nie abgewichen.
Sie stöhnte leise, ratlos und zutiefst erschöpft. Warum konnte die Polizei nicht endlich den Täter fassen? Warum fand der Fall nicht zu der Klarheit, die Spekulationen und Verdächtigungen ein Ende setzte? Warum mußte Leon plötzlich mit einer Liebeserklärung daherkommen? Warum schien alles nur immer schwieriger und verworrener zu werden?
»Ich möchte nach Hause«, bat sie. »Es tut mir leid, Leon, aber
ich kann dir heute abend nicht antworten. Das alles kommt sehr überraschend für mich, und es kommt auch zu schnell nach … nach allem, was passiert ist. Ich bin noch nicht so weit, daß ich über eine neue Beziehung nachdenken kann. Ich brauche sehr viel mehr Zeit.«
»Natürlich«, sagte Leon rasch, aber er sah nicht so aus, als könne er sie wirklich verstehen oder als behage ihm die Vorstellung, auf eine endgültige Stellungnahme ihrerseits warten zu müssen.
»Telefonieren wir?« fragte er.
»Ja. Sicher.« Sie schob sich an ihm vorbei ins Wohnzimmer. »Ich werde dich anrufen.«
Er lächelte gequält: »Was soviel heißt wie: Ruf du mich bitte nicht an!«
Sie hätte es albern gefunden, ihm nach all der Zeit zum Abschied die Hand zu geben, und so hauchte sie ihm einen Kuß auf die Wange, so flüchtig, daß er es kaum mißverstehen konnte. »Gib mir Zeit. Und danke für den Abend!«
Sie wartete nicht einmal auf den Fahrstuhl. Sie lief die Treppen hinunter wie gehetzt und atmete auf, als sie draußen vor der Haustür stand.
Erst dort fiel ihr ein, daß sie ihn eigentlich noch einmal nach Marc hatte fragen wollen.
11
Keith Mallory hatte ein eigenartiges Gefühl, nachdem er den Telefonhörer aufgelegt hatte. Fast hatte es ihn erschüttert, Ricarda plötzlich am Telefon zu hören. Es war eine unausgesprochene Vereinbarung gewesen, daß sie ihn nicht zu Hause anrief. Klar, das hatte in erster Linie mit seinem Vater zu tun gehabt, und da dieser nun in einem Zustand war, in dem er sich in nichts, aber
auch gar nichts mehr einmischen konnte, was um ihn herum geschah, sah sich Ricarda an diese Übereinkunft natürlich nicht mehr gebunden.
Er fragte sich, warum ihm die Knie zitterten, nachdem er ihre Stimme gehört hatte.
Das Telefon stand im niedrigen Hausflur, und Keith mußte nur zwei Schritte machen, um hinaus auf den Hof zu treten. Es war warm, erstaunlich warm für Mai und auch ungewöhnlich trocken. Sie hatten sonst viele Niederschläge hier in Yorkshire, aber nicht in diesem Jahr. Im Süden des Landes regnete es weitaus häufiger, wie er dem Fernsehen und der Zeitung immer wieder entnahm.
Der Hof lag still und friedlich in der Sonne. Zwei Hühner schritten majestätisch vom Stall zur Scheune, ihre Artgenossen hatten sich in den Schatten der Büsche zurückgezogen und sich behagliche Kuhlen in der trockenen Erde gekratzt. Das Anwesen wirkte gepflegter als zu den Schaffenszeiten des alten Greg, und diese lagen schließlich erst vier Wochen zurück. Aber Keith hatte in den vier Wochen geschuftet wie noch nie. Er hatte verrostete Geräte, die in allen Ecken vor sich
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