Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Titel: Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
hingammelten, weggeschafft, ebenso die alten Autoreifen und das völlig verfallene Bretterhäuschen, das früher als Toilette gedient hatte. Er hatte Unkraut ausgegraben, bis seine Hände voller Blasen und sein Rücken ein einziger brüllender Schmerz waren. Er hatte den Schweinestall gestrichen und den brüchig gewordenen Zaun um den Auslauf der Tiere erneuert. Als nächstes würde er die zerbrochene Fensterscheibe am Heuschober durch ein sauberes, intaktes Glas ersetzen. Die Haustür brauchte dringend einen frischen Anstrich. Es gab viel zu tun.
    Er hatte sich noch nie zuvor in seinem Leben so tatkräftig gefühlt.
    Vor allem hätte er nie gedacht, daß ihn ausgerechnet dieser Hof zu solch einer Hingabe, zu solch einer Leistungsbereitschaft inspirieren könnte. Früher hatte er sich um jede Arbeit gedrückt, die mit der Farm zu tun gehabt hatte. Ihm war geradezu schlecht
geworden bei der Vorstellung, hier Seite an Seite mit seinem Vater irgendwelche Tätigkeiten zu verrichten. Sein ganzes Dasein hatte darin bestanden, in seine einsame Scheune zu flüchten, dort auf dem zerschlissenen Sofa zu liegen und davon zu träumen, den Stuck alter, edler Häuser zu restaurieren.
    Unkraut jäten, Zäune reparieren und Ställe ausmisten hatte kaum etwas zu tun mit der Arbeit, die er sich für sein Leben vorgestellt hatte. Deshalb erstaunte ihn die Erkenntnis, daß er sie mit echter Leidenschaft verrichtete. Es war, als habe die Krankheit seines Vaters einen Weg frei gemacht, der zuvor verstellt gewesen war und der sich plötzlich ungeahnt weit öffnete. Er hatte sich befreit. Mit jedem verrosteten Eimer, den er fortschaffte, hatte er ein Stück seines Vaters fortgeschafft. Mit jeder zähen Distel, die er aus der Erde riß, hatte er ein Stück seines Vaters ausgerissen. Mit jeder Erneuerung, die er vornahm, hatte er ein Stück seines Vaters ausradiert und sich selbst an die frei gewordene Stelle gesetzt.
    Greg war nicht tot, aber man konnte ihn auch kaum als wirklich lebendig bezeichnen. Das Krankenhaus hatte ihn in die häusliche Obhut seiner Frau entlassen, was bedeutete, daß Gloria nun eine Art Riesenbaby zu versorgen hatte, einen Mann, der von morgens bis abends im Bett lag, der gefüttert und gewindelt werden mußte, der kein einziges verständliches Wort aussprechen konnte und dessen Zustand sich, wie es die Ärzte bereits vorsichtig angedeutet hatten, wohl kaum jemals entscheidend verbessern würde.
    Jetzt gehörte der Hof ihm, Keith. Noch nicht im juristischen Sinne, aber er hatte bereits die volle Verantwortung für die Tiere, für das Land, das Haus und die Ställe übernommen. Und er merkte, daß sowohl seine Mutter als auch seine Schwester in ihm das neue Familienoberhaupt sahen.
    Zudem hatte er das Gefühl, sich in jenen vier Wochen den Hof wirklich angeeignet, sich dauerhaft ein Revier abgesteckt zu haben.

    Wie ein Hund, der die Ecken anpinkelt, dachte er ironisch.
    Plötzlich hatte er eine Perspektive. Eine Zukunft. Sein Leben hatte sich von einem Moment zum anderen völlig und grundlegend verändert.
    Er atmete tief durch und dachte an das eben geführte Telefongespräch. Ricarda hatte sich angehört, als flehe sie um Hilfe. Ein wenig machte ihm dieser Gedanke angst, das merkte er deutlich. Er stand am Beginn eines neuen Lebens. Die Vorstellung, ausgerechnet jetzt könne sich ein anderer Mensch haltsuchend an ihn klammern, gab ihm ein Gefühl der Überforderung. Er war neunzehn. Er war dabei, seinen Weg zu finden. Wie geeignet war er, eine ernste Beziehung mit einer traumatisierten Sechzehnjährigen einzugehen?
    Denn natürlich war sie traumatisiert. Man mußte kein Psychologe sein, um das zu wissen. Sie hatte ihren Vater auf die grauenhafteste Art verloren, die man sich vorstellen konnte, und der Umstand, daß noch dazu eine Reihe enger Bekannter regelrecht hingemetzelt worden waren, konnte kaum dazu beitragen, daß sie sich besser fühlte. Ob sie manchmal darüber nachdachte, daß es vermutlich reiner Zufall war, daß sie selbst überlebt hatte?
    Am Telefon hatte sie das Geschehen mit keinem Wort gestreift, und gerade das kam Keith verdächtig vor. Schon damals in der Scheune, als er ihr die Nachricht überbrachte, hatte sie so eigenartig reagiert - verdrängend, herunterspielend. Sie hatte sich, wie er fand, ausgesprochen ungesund verhalten, und nach wie vor schien sie sich einer Verarbeitung der Ereignisse zu entziehen.
    Er liebte sie, da war er schon sicher inzwischen. Sie war zärtlich und hingebungsvoll.

Weitere Kostenlose Bücher