Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
nachdem er dir das angetan hat«, sie wies auf Geraldines verstümmelte Haare, »kannst du nicht aufhören, dich nach ihm zu verzehren, und natürlich träumst du insgeheim immer noch davon, daß er zu dir zurückkommt, daß ihr euch versöhnt und alles wieder gut wird.«
Geraldine senkte die Augen. Es stimmte, was Lucy sagte. Sie wünschte nichts mehr, als daß …
»Und deshalb täuschen dich deine Gefühle«, fuhr Lucy fort, »du fühlst, was du fühlen willst , und nichts, was mit irgendeiner Wahrheit zu tun hat. Das heißt - für ein paar Momente war dir offenbar schon klar, was du zu tun hast. Denn sonst hättest du an jenem Abend nicht diesen Superintendent in Yorkshire angerufen. «
»Das war nur ein … ein Racheakt. Ich war verstört, verzweifelt, völlig … aufgelöst. Phillip hatte … ich hatte zum erstenmal richtig Angst vor ihm, und …« Sie biß sich auf die Lippen.
»Das«, sagte Lucy, »war wahrscheinlich das einzige Mal, daß du ein stimmiges Gefühl diesem Mann gegenüber hattest.«
»Er hätte mich töten können. Warum sollte sich ein Killer, ein Irrer damit begnügen, jemandem die Haare abzuschneiden, wenn er ihm die Schere auch … auch ins Herz stoßen könnte?«
»Auch ein Irrer«, berichtigte Lucy im Brustton der Überzeugung, obwohl sie sich bislang keineswegs als Spezialistin für Menschen dieser Art empfunden hatte, »läuft nicht den ganzen
Tag total durchgeknallt herum. Es sind nur einzelne Momente, in denen er austickt. Offenbar ist das in - wie hieß der Ort? - in Stanbury passiert. Ansonsten kann er ganz normal wirken und handeln. Obwohl«, fügte sie hinzu, »Phillip Bowen, wenn du mich fragst, nie normal gewirkt hat. Wie auch immer, an jenem Abend war ihm wohl klar, daß er seine Lage nur verschlimmert, wenn er einen weiteren Mord begeht. Seine maßlose Wut auf dich brauchte jedoch ein Ventil. Das fand er im Abschneiden deiner Haare. Das ist übrigens an sich schon ziemlich krank. Wie auch das Sammeln dieser Artikel über Kevin McGowan und diese ganze idiotische Geschichte über seinen angeblichen Vater. Alles an dem Mann ist … unheimlich. Und das würde dir auch jeder andere Mensch sagen.«
»Du hast ihn nie gemocht.«
»Weil ich es nicht mit ansehen konnte, wie er dich behandelt hat.«
Geraldine starrte aus dem Fenster. Sie sah aus wie ein kleines, frierendes, gerupftes Küken. Lucy, die selten zärtliche Regungen in sich verspürt hatte, merkte, daß es sie drängte, sie in den Arm zu nehmen und wie ein Baby zu wiegen. Sie unterließ es natürlich. Es wäre ihr peinlich gewesen, und Geraldine vielleicht auch.
»Ich weiß nicht, wie mein Leben weitergehen soll, Lucy. Es ist … es ist, als ob alles zu Ende sei. Alles ist hoffnungslos und ohne Zukunft. Ich bereue so tief, was ich getan habe …« Sie vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich hätte seine Sachen nicht zerschneiden dürfen. Was immer ich über seinen … seinen Wahn mit Kevin McGowan dachte - ich hätte mich nicht einmischen dürfen. Es war seine Angelegenheit. Im Grunde habe ich nichts anderes getan als er. Er hat mir die Haare abgeschnitten, und ich habe zerstört, woran sein Herz hing. Aber ich habe angefangen. Ich habe die Grenze als erste überschritten.«
»Also, das sind zwei Dinge, die man wohl kaum miteinander vergleichen kann!«
»Doch, Lucy. Doch!« Geraldine sah auf. »Ich habe ja sein Gesicht
gesehen, als er begriff, was ich da tat. Es war sein Innerstes, an das ich gerührt habe. Es war ein Übergriff, wie er schlimmer nicht hätte sein können. Ich habe alles damit zerstört.«
Es lag Lucy auf der Zunge zu sagen, daß zwischen ihr und Phillip nichts gewesen war, was hätte zerstört werden können, aber sie schluckte es hinunter. Weshalb gegen taube Ohren predigen?
»Und dann gehe ich auch noch zur Polizei! Nie, nie, nie wird er es mir verzeihen …«
Alles von vorn, dachte Lucy erschöpft. Wieder und wieder.
» Ich weiß, daß er unschuldig ist. Er hat mit diesem scheußlichen Verbrechen nichts zu tun. Aber sie werden ihn schnappen, und nach der Geschichte mit dem Alibi wird er für sie als Täter feststehen, und er …«
»Er wird einen Prozeß bekommen. Wir leben in einem Rechtsstaat. Wenn er unschuldig ist, was ich nicht glaube, dann wird sich das herausstellen, und er hat nichts zu befürchten.«
»Lucy, es wäre doch nicht das erste Mal, daß jemand lediglich aufgrund von Indizien verurteilt wird und daß sich Jahre oder Jahrzehnte später seine Unschuld herausstellt. Wie
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