Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
angerufen, und bei den Mädchen aus dem Basketball-Team auch. Da hat keine etwas von ihr gehört oder gesehen.«
»Dennoch würde ich nicht gleich das Schlimmste denken. Ich …«
Wieder unterbrach Elena. »Es fehlen eine Reisetasche, ein paar T-Shirts, Jeans und Unterwäsche aus ihrem Schrank. Außerdem hat sie … sie hat Geld aus einer Kassette in meinem Schreibtisch genommen.«
»Oh …«, sagte Jessica leise.
Elenas Stimme hatte klein und verzagt geklungen. »Ich würde Sie nicht damit behelligen, Jessica, glauben Sie mir, wenn ich nicht völlig verzweifelt wäre.«
»Leider hat mich Ricarda nie als die neue Frau an der Seite ihres Vaters akzeptiert«, sagte Jessica, »und sich mir daher niemals auch nur in den kleinsten Kleinigkeiten anvertraut. Also kann ich Ihnen, wie ich fürchte, auch kaum weiterhelfen.«
»Es gibt da noch etwas«, hatte Elena nach ein paar Sekunden des Schweigens gesagt. »Sie hat ihr Tagebuch hiergelassen. Für gewöhnlich würde ich eine solche Grenze nie überschreiten, aber in dieser Situation …«
»Sie haben das Tagebuch gelesen?«
»Sie muß krank sein, Jessica, ernsthaft krank! Was ich gelesen habe, hat mich zutiefst erschüttert. Hätten Sie … ich meine, dürfte ich zu Ihnen kommen? Ich muß mit Ihnen darüber sprechen. Ich habe Angst, Jessica. Ich habe noch nie solche Angst um meine Tochter gehabt.«
Sie saßen auf der Terrasse, denn der Abend wollte nicht kühler werden, und es war draußen angenehmer als drinnen. Jessica hatte Weißwein gebracht und zwei Gläser, und sie hatte Baguettescheiben
mit Olivenpaste bestrichen und dazugestellt, aber Elena rührte von dem Essen nichts an. Sie nippte nur hin und wieder an ihrem Wein und runzelte gelegentlich die Stirn, als wehre sie sich gegen aufkeimende Kopfschmerzen. Sie trug ein elegantes, helles Kostüm, das etwas verschwitzt und zerknittert wirkte. Offenbar hatte sie seit der Rückkehr von dem anstrengenden Tag weder geduscht noch sich umgezogen. Ihre schweren, schwarzen Haare - von reichlich Grau durchzogen inzwischen - schienen im Nacken feucht zu sein.
Der Garten war voller Schatten, voll sommerlicher Gerüche und erster wispernder Geräusche, die nur die Nacht hervorbringt, und mitten im Gras lag Barney und kaute hingebungsvoll auf einem großen Ast herum, den er beim Spazierengehen gefunden und keuchend vor Anstrengung in sein Revier geschleppt hatte. Es war alles wie immer, vielleicht sogar von besonderer Friedlichkeit und Idylle, und dennoch hatte sich für Jessica alles verändert in dem Moment, da Elena das Haus betrat. Elena verhielt sich zurückhaltend und wie ein Gast, und dennoch bewegte sie sich in einer Art durch den Flur und das Wohnzimmer hinaus auf die Terrasse, die verriet, daß ihr die Umgebung vertraut war.
Woran liegt das? fragte sich Jessica, die bis zu diesem Moment gar nicht daran gedacht hatte, daß Elena ja jahrelang in diesem Haus gewohnt hatte. Ist es das Fehlen des Zögerns, das andere Besucher an den Tag legen, bevor sie ein fremdes Zimmer betreten? Die mangelnde Neugier, mit der sie sich umsieht? Eine taktvolle Zurückgenommenheit? Oder liegt es nur daran, daß ich weiß , sie hat hier gelebt? Daß ich sie plötzlich vor mir sehe zwischen diesen Wänden, den Möbeln, den Vorhängen? Vielleicht ist es eine ungewöhnliche Stimmigkeit. Sie paßt zu der Umgebung, und die Umgebung paßt zu ihr.
Und auf einmal, blitzartig, entschied sich für sie die Frage, mit der sie sich seit ihrer Rückkehr aus England immer wieder ergebnislos beschäftigt hatte, und sie entschied sich mit einer Klarheit, daß Jessica später gar nicht mehr begriff, wie es überhaupt nur
den geringsten Zweifel hatte geben können: Sie würde in diesem Haus nicht bleiben. Sie hatte es nie als Heimat empfunden, und daran würde sich auch in Zukunft nichts ändern. Es war das Haus von Alexander, Elena und Ricarda.
Nicht das von ihr und ihrem Kind.
Und weh tat dabei nur die Erkenntnis, daß es wichtig gewesen wäre, zusammen mit Alexander ein neues Zuhause zu schaffen, denn dann hätte sie nun etwas, das ihr blieb.
Ein Fehler, den sie begangen hatte, einer, den sicher viele Menschen begingen, nur daß er in ihrem Fall durch Alexanders plötzlichen Tod unkorrigierbar geworden war.
Kann passieren. Nur warum mußte es gerade mir passieren?
Sie versuchte sich auf Elena zu konzentrieren, die von Ricarda sprach. Wie verändert sie gewesen war seit dem Geschehnis, daß sie entweder frech und rücksichtslos oder völlig in
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