Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
kannst du an die Unfehlbarkeit von Gerichten glauben?«
»Wenn er unschuldig ist, warum dann das konstruierte Alibi? Warum jetzt seine Flucht? Nein, Geraldine, hör auf, dir ständig etwas vorzumachen. Und zwar in jeder Hinsicht. Phillip Bowen hat dich nie geliebt. Er hat nie an eine gemeinsame Zukunft mit dir gedacht. Um es deutlich zu sagen: Du gingst ihm immer am Arsch vorbei ! Kapiert?«
Lucy stand auf. Sie war erregt und wütend, und sie hatte auf das alles keine Lust mehr. Geraldine war ihr bestes Pferd im Stall gewesen, und jahrelang hatte sie mit ansehen müssen, wie sie sich von ihrer hoffnungslosen Liebe zu diesem Tunichtgut hatte ausbremsen lassen. Wie oft waren Termine geplatzt, weil sie verheult war, wie oft hatte sie wichtige Verabredungen mit einflußreichen Männern - die für ihre Karriere hätten wichtig sein können - abgesagt,
um wieder einen Abend lang frierend in der indiskutablen Absteige von Phillip Bowen zu sitzen und zu hoffen, daß er das eine oder andere nette Wort an sie richtete. Lucy hatte es satt, so abgrundtief satt. Überdies kränkte es sie als Frau, daß sich eine andere Frau so tief von einem Mann erniedrigen ließ.
»Es war verdammt gut, daß du dich aus dieser unsäglichen Nummer mit dem Alibi herausmanövriert hast. Es war verdammt richtig. Und es gibt nur eines, was mich daran besorgt sein läßt …«
Sie machte eine kurze Pause, überlegte, ob sie Geraldine von ihren Befürchtungen berichten sollte. Sie hatte den ganzen gestrigen Tag über daran gedacht. Sie wollte Geraldine in ihrem desolaten Zustand nicht auch noch verunsichern, andererseits war es vielleicht ihre Pflicht, sie zu warnen …
Geraldine sah sie an. »Was denn, Lucy?«
»Ich weiß, du weist es weit von dir, aber angenommen, nur angenommen , er hat es getan …«
»Was?«
»Die Morde. Diese scheußlichen, blutigen Morde an fünf Menschen … Wenn sie auf sein Konto gehen - und du hast nicht den geringsten Beweis dafür, daß es nicht so war -, dann ist er ein extrem gefährlicher Mann. Ein Irrer. Eine wandelnde Zeitbombe. Und du hast ihn sehr wütend gemacht.«
»Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.«
Lucy sah sie sehr ernst an. »Vielleicht öffnest du besser nicht die Tür, wenn es klingelt. Läßt nachts die Fenster geschlossen und schließt auch die Terrassentür, egal, wie warm es noch wird. Verlaß das Haus nur tagsüber und am besten nur in meiner Begleitung. Bis sie ihn haben, solltest du kein Risiko eingehen.«
»Aber du glaubst doch nicht …«
»Ich sage nur, du sollst kein Risiko eingehen. Vielleicht ist er rachsüchtiger, als du denkst. Vielleicht verliert er wieder die Kontrolle über sich. Ich will nicht, daß … ich will einfach nicht, daß dir etwas passiert, okay? Versprichst du mir, vorsichtig zu sein?«
»Lucy, ich denke, daß du …«
»Versprich es mir!«
Geraldine ließ sich zurück in die Kissen des Sofas fallen. Ihr schmuddeliges, zerknittertes Nachthemd klaffte über ihrem Bauch auseinander. Lucy sah die tiefe Kuhle zwischen den spitzen Hüftknochen und die Rippen, die sich so hoch wölbten, als wollten sie die dünne Haut durchbohren.
Wie mager sie ist, dachte Lucy.
»Ich verspreche es dir«, sagte Geraldine ausdruckslos.
Sie hätte auch versprechen können, den Kilimandscharo auf einem Schlitten hinunterzufahren - es hätte den gleichen Wert gehabt.
3
Es gab Fotos von Elena, die sie als außergewöhnlich schöne Frau zeigten, als die typische schwarzhaarige, dunkeläugige Spanierin, temperamentvoll und lebendig. Bei den wenigen kurzen Begegnungen, die es gelegentlich gegeben hatte, war Jessica jedoch aufgefallen, daß Elena ihren älteren Bildern im normalen Alltag immer weniger glich: Mehr und mehr schien sie zu verblühen, an Strahlkraft zu verlieren, schien kleiner, dünner, faltiger zu werden.
Noch nie aber hatte sie so schlecht ausgesehen wie an diesem Abend.
Sie ist ja richtig alt geworden, hatte Jessica gedacht, als sie ihr die Tür öffnete.
»Ich nehme an einer Fortbildung teil«, hatte Elena am Telefon berichtet, »deshalb war ich von heute früh an fort, obwohl Samstag ist. Um halb sechs kam ich nach Hause. Ricarda war nicht da.«
»Aber sie könnte doch bei einer Freundin sein, oder …«
»Sie hat das Haus nicht mehr verlassen, seit sie aus den Osterferien zurück ist«, hatte Elena unterbrochen. »Und eine richtige Freundin hat sie eigentlich gar nicht. Bei ein paar Klassenkameradinnen, mit denen sie sich ganz gut versteht, habe ich schon
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