Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
sich gekehrt und wie in einer anderen Welt gewesen war. Daß sie sich geweigert hatte, in die Schule zu gehen oder in ihren Basketball-Club. Sich überhaupt nur anzuziehen und das Haus zu verlassen.
»Ich wußte natürlich, daß sie dringend in psychologische Behandlung gehört«, sagte Elena, »aber auch dagegen sträubte sie sich mit Händen und Füßen. Kann ich eine fast Sechzehnjährige zwingen, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn sie das nicht will? Vielleicht hätte ich sie stärker unter Druck setzen sollen.«
»Ich glaube nicht, daß das etwas gebracht hätte«, meinte Jessica. »Wir alle müssen, jeder für sich, unseren Weg finden, das Grauen zu verarbeiten. Für jeden wird das eine ganze Zeit dauern. Für Ricarda vielleicht am längsten. Sie ist in einem schwierigen Alter.«
»Sie hat unsere Scheidung nie verkraftet«, sagte Elena. »Sie hat ihren Vater abgöttisch geliebt. Ihn nur noch an den Wochenenden sehen zu können muß schrecklich für sie gewesen sein. Und dann noch …« Sie sprach nicht weiter, aber Jessica wußte, was sie hatte sagen wollen.
»… und dann noch die Heirat mit mir«, vollendete sie. »Das hat ihre letzte Hoffnung zerschlagen.«
»Ja«, sagte Elena müde, »das war wohl so.«
Ihre Hände zitterten leicht, während sie ihre Handtasche öffnete und das dicke, grüne Schreibheft hervorzog. Jessica kannte es nur zu gut. Ricardas Tagebuch. Wieder sah sie es in Patricias Händen, hörte die kühle Stimme der Freundin - Freundin? -, mit der diese daraus vorlas. Jener Abend stand so dicht plötzlich vor ihr, daß sie in der Erinnerung erschrocken seufzte.
Elena mißinterpretierte diesen Laut. »Ich weiß«, sagte sie hastig, »ich hätte mich daran nicht vergreifen dürfen. Sie müssen mir glauben, unter einigermaßen normalen Umständen wäre dieses Buch absolut tabu für mich gewesen, aber da ich mir gar nicht mehr zu helfen wußte und mir solche Sorgen machte …«
»Ich verstehe«, sagte Jessica, »ich hätte vermutlich genauso gehandelt.«
Elenas Gesicht war sehr blaß, während sie auf das Buch starrte. »Und jetzt wünschte ich, ich hätte nie hineingeschaut«, sagte sie leise. »Gott … es stehen so furchtbare Dinge darin. Voller Haß und Wut. Grausame Phantasien … Das meinte ich vorhin, als ich sagte, sie ist krank. Das … das ist nicht normal …«
Jessica stand auf. Da sie einige Passagen kannte, war ihr klar, was Elena meinte, und sie hoffte, daß ihr Gesicht nicht verriet, daß sie mehr wußte, als sie jetzt zugeben wollte. Intuitiv beschloß sie, daß es besser war, jenen Abend im Wohnzimmer von Stanbury House nicht zu erwähnen. Sie war fast sicher, daß Ricarda ihrer Mutter nichts davon erzählt hatte, und es würde Elenas Schrecken und ihre Angst nur verstärken, wenn sie nun davon erfuhr.
Sie blieb hinter ihrem Stuhl stehen. »Ich kenne die Einträge nicht«, sagte sie, »aber ich bin der Meinung, man sollte so etwas keinesfalls überbewerten. Als ich in Ricardas Alter war, bin ich auch manchmal fast geplatzt vor lauter Aggressionen gegen meine Eltern, und hätte ich ein Tagebuch geführt, wäre es sicher voller Wuttiraden gewesen. Das ist normal.«
»Aber sie wünscht allen den Tod«, sagte Elena, »allen, die in Stanbury House lebten. Sie malt sich aus, wie es wäre, sie zu erschießen und … und sie einzeln zu Boden sinken zu sehen. Es … ist grauenhaft.«
»Es ist grauenhaft, weil später wirklich ein Verbrechen geschehen ist. Dadurch rückt alles so weit in die Realität vor. Wäre nichts passiert, würde man derlei Phantasien als viel harmloser empfinden. Da bin ich sicher.«
»Dieser Keith Mallory«, sagte Elena, »ihr Freund … kennen Sie ihn?«
»Nein. Leon hat ihn mal kurz gesprochen, gleich nach dem Verbrechen. Er sei ein sympathischer junger Mann, sagt er. Sicher nicht der falsche Freund für ein junges Mädchen.«
»Ich weiß nicht … Die Beziehung geht wesentlich weiter, als ich dachte. Die beiden hatten versucht, nach London durchzubrennen und dort ein neues Leben anzufangen … Nur weil Keiths Vater durch einen Schlaganfall plötzlich arbeitsunfähig wurde, sind sie umgekehrt. Aber Ricarda scheint fest entschlossen, ihr Leben mit ihm zu verbringen. Jedenfalls schreibt sie ständig davon. Im Juni, nach ihrem sechzehnten Geburtstag, wollte sie zu ihm und dann dort bleiben.«
»Aber dann«, sagte Jessica erleichtert, »brauchen Sie doch gar nicht mehr zu rätseln, wo sie jetzt ist. Sie hat es nicht mehr ausgehalten und
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